Das Wiener Stadtmagazin Falter lüftet in der aktuellen Ausgabe ein Geheimnis: Überall führt die Aufwertung von Stadtvierteln zur Verdrängung der Armen. Außer in Wien. Was macht man hier anders? In dem Beitrag von Joseph Gepp und Matthias Writze werden zunächst Aufwertungsprozesse in verschiedenen Wiener Nachbarschaften beschrieben: Neue schicke Lokale rund um den Karmelitermarkt, steigende Mieten im Stuwerviertel – aber Gentrification sei dass alles keinesfalls.
Gemein ist allen Vierteln (…) ihre Wertsteigerung und die Tatsache, dass die alteingesessene Bevölkerung trotzdem nicht verdrängt wurde.
Auch in Wien führe die Aufwertung zu höheren Mieten, und erschwere den Zuzug von ärmeren Schichten und Migranten. Eine Verdrängung jener, die bereits da sind, fände bisher nicht statt.
„Die Mentalität in Wien ist anders als beispielsweise in Amerika, man will langfristig in einer Wohnung bleiben. Die Mietpreisdynamik ist ganz anders als in New York“, sagt TU-Dozent Rudolf Giffinger. „In Wien gibt es Gentrifizierung im eigentlichen Sinne nicht.“
Die verdrängungsfreie Aufwertung ist jedoch weniger auf eine geheimnisvolle Mentalität zurückzuführen, sondern auf eine sozial ausgerichtete Wohnungspolitik.
Der Stadtforscher Udo Häberlin von der MA 18 für Stadtplanung benennt zwei zentrale Bestandteile der Wiener Wohnpolitik:
„Einerseits haben wir ein sozial gestaltetes Mietrecht. Und andererseits hat die Gemeinde auf den Wohnungsmarkt großen Einfluss.“
Neben dem restriktiven Mieterschutz und der hohen Anzahl an Gemeindebauwohnungen – 220.000 öffentliche Wohnungen beherbergen in Wien rund eine halbe Million Mieter/innen – kann die öffentliche Förderung von Sanierungsmaßnahmen als dritte Komponente des Wiener Erfolgsrezeptes gegen Verdrängung angesehen werden. Allein in diesem Jahr wurden fast 200 Mio. Euro für die Wohnungsbauförderung ausgegeben. SPÖ-Wohnbaustadtrat Michael Ludwig erklärt, wie sich diese Förderungen auf die Mietentwicklung auswirken:
„Wer zum Beispiel mit städtischer Förderung saniert, verpflichtet sich damit automatisch, die Mieten für die folgenden 15 Jahre nicht zu erhöhen. Wien gibt doppelt so viel für Sanierungen aus wie zum Beispiel Berlin, obwohl es nur halb so groß ist. Auf diese Art können wir Verdrängungstendenzen abfedern.“
Eine kritischere Perspektive auf die Wiener Stadtentwicklungpolitik findet sich in der Aprilausgabe der Zeitschrift Malmloe. Unter dem Titel „Tote Städte, Gentrification & Konsum-Zombies“ beschreibt Ramón Reichert die „marktwirtschaftliche Verwandlung des öffentlichen Raums in Bühnen konsumorientierter Selbstinszenierungen“ im Umfeld der Fussball-Europameisterschaft im vergangenen Sommer:
Der von roten Stadtregierung verantwortete soziale Prozess der Gentrification und die von der Gemeinde Wien betriebenen Planungen und Baumaßnahmen wurden nach dem Prinzip der verordneten „Maßnahme“ vorgenommen (top-down). Dabei wurde die lokale Bevölkerung aus dem Prozess der Entscheidungsfindung strategisch ausgeschlossen. Das sozialdemokratische Planungsbüro agierte stets anachronistisch: ohne Partizipation der Bürger/innen, ohne Mediationsverfahren wurden Planungsvorhaben zentralistisch und bürokratisch und im Falle der Eventarchitektur („Entree-Themenpark“) am Pratervorplatz ohne Ausschreibungsvorhaben abgewickelt.
Die rote Stadtregierung hat selbst das Interesse an ihrem eigenen kulturellen Gedächtnis verloren. Die von der Stadtverwaltung des „Roten Wien“ geförderte Bäderkultur der 20er Jahre und die mit ihr verbundene Idee der sozialen Öffnung des urbanen Raums zählt für die heutige Sozialdemokratie nicht mehr, weil es vorrangig darum geht, urbane Räume für wohlhabendere Bevölkerungsschichten abzuschotten.
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