Am Montag fand im Abgeordnetenhaus Berlin eine Veranstaltung der Linksfraktion mit dem Titel „Zu Hause mit Hartz IV“ statt. Die Abgeordnete Elke Breitenbach stellte fünf Anträge für eine Neugestaltung der Ausführungsvorschrift Wohnen (AV-Wohnen) vor, im Anschluss durften Reiner Wild vom Berliner Mieterverein, Markus Wahle vom Berliner Bündnis für eine bessere AV Wohnen und ich die vorliegenden Anträge kommentieren. In der offenen Diskussionen nach den Vorträgen kamen dann verstärkt Initiativen und Betroffe selbst zu Wort, die sehr deutlich machten, welche katastrophalen Auswirkungen die bisherige Praxis für Hart-IV-Bedarfsgemeinschaften mit sich bringt. So ergab eine Umfrage des Notfalltelefons der Kampagne gegen Zwangsumzüge, dass 20 Prozent der Befragten die über den Richtwerten liegenden Wohnkosten aus den Regelsätzen finanzieren und am Ende des Monats hungern müssen. Angesicht dieser Dramatik erscheinen die diskutierten Änderungsvorschläge als Versuch einen Gorilla zu schminken: eine soziale Stadtpolitik wird mit der Hartz-IV-Gesetzgebung nicht durchzusetzen sein. Dennoch waren sich die meisten Anwesenden einig, dass die momentanen Regelungen einer Revision bedürfen und die Spielräume für die Betroffenen ausgeweitet werden müssen. Markus Wahle zeigte sich jedoch deutlich enttäuscht, dass nur ein Teil der von verschiedenen Initiativen erarbeiteten Änderungsvorschläge zur AV-Wohnen Eingang in die nun vorliegenden Anträge gefunden hatten.
Einen guten Veranstaltungsbericht gibt es in der jungen welt nachzulesen: Hausen mit Hartz IV. Christian Linde beendet seinen Beitrag mit meinem Bewegungsoptimismus (Danke schön!). Mal sehen, ob es hilft:
Holm appellierte an die Initiativen, sich nicht an Forderungen nach kosmetischen Korrekturen an der AV Wohnen zu verlieren. Im Mittelpunkt müsse die Stadtpolitik insgesamt stehen. Hierbei hätten nicht zuletzt die außerparlamentarische Bewegung und die »Marktmacht von 300 000 ALG-II-Beziehern« eine besondere Bedeutung. »Drei Parteien im Berliner Parlament beschäftigen sich zurzeit intensiv mit Wohnungspolitik. Das tun die nicht freiwillig«, so Holm.
Für alle, die noch mehr zu den auf der Veranstaltung diskutierten Anträgen wissen wollen, hier eine Zusammenfassung der Antragsentwürfe und eine leicht überarbeitete Fassung meiner Stellungnahme:
Entwurf für Anträge der Fraktion der SPD und der Linksfraktion im Berliner Abgeordentenhaus zur Modifizierung der AV-Wohnen in Berlin. Die Vorschläge der Linksfraktion liegen schon seit einigen Monaten vor, wurden jedoch bisher vom Koalitionspartner SPD noch nicht abschließend bestätigt. Konkret handelt es sich um folgende Anträge:
- Nach der Beendigung der sogenannten Ein-Jahres-Regelung (erst nach einem Jahr SGB-II-Bezug wurden in Berlin die Kosten der Unterkunft überprüft) soll diese über eine Bundesratsinitiative allgemeinverbindlich werden.
- Ein flexibler Umgang mit den steigenden Heizkosten soll verhindern, dass Kostensenkungsaufforderungen allein aufgrund der steigenden Heizkosten erfolgen.
- Kostensenkungsverfahren sollen künftig durch ein verbessertes Beratungsangebot begleitet werden.
- Die Festlegung der Richtwertsätze soll sich am jeweils aktuellen Mietspiegel orientieren und Neuvermietungen ermöglichen. In Orientierung am sogenannten ‚Hamburger Modell‘ sollen in Gebieten mit Anteilen von weniger als 10 Prozent Hartz-IV-Haushalten Richtwertüberschreitungen zugelassen werden,
- Die Job-Center sollen angehalten werden, die notwendigen Zustimmungen für Umzüge zügig zu bearbeiten um die dadurch entstehenden Diskriminierungen bei der Wohnungsbewerbung zu minimieren.
Stellungnahme zu den vorliegenden Vorschlägen einer Neuordnung der AV-Wohnen in Berlin
von Andrej Holm
Die fünf vorliegenden Anträge für die Neuordnung der Regelungen der Kosten der Unterkunft für ALG II-Bedarfsgemeinschaften umfasste verschiedenen Bereiche der Regelung. Ich werde mich in meiner Stellungnahme insbesondere auf die Anträge 1 (Bundesratsinitiative) und 4 (Richtwertfestlegung) beziehen.
Mein Hintergrund sind Auswertungen von Untersuchungen und Marktbeobachtungen des Berliner Wohnungsmarktes sowie verschiedener Sozialstudien und kleinräumiger Sozialdaten (etwa Monitoring Soziale Stadt oder Sozialstrukturatlas).
Als zentrale Herausforderungen der Hartz-IV-Gesetzgebung für den Bereich der Wohnungsversorgung gelten aus einer Perspektive einer sozialen Stadtpolitik der Versorgungsqualität für ALG-II-Bedarfsgemeinschaften und die Vermeidung von Segregationstendenzen. Bezogen auf die Regelungen der AV-Wohnungen betrifft dies vor allem folgende Aspekte:
a) die Angemessenheit der Versorgung mit Wohnungen,
b) der Zugang zu Wohnungsversorgung für ALG-II-Bedarfsgemeinschaften sowie
c) der Schutz der bestehenden Wohnung und die Vermeidung erzwungener Umzüge
Grundsätzlich sollte sich eine sozialorientierte Wohnungspolitik dabei an einer Entkopplung von Einkommenssituationen und Zugang zu Wohnungsversorgungssystemen orientieren, um eine räumliche Ausprägung sozialer Polarisierungen zu vermeiden. Der konsequente Verzicht auf jegliche Bemessungsgrenzen findet dabei jedoch zurzeit keine politischen Mehrheiten, so dass ich mich in meinen Ausführungen auf die Gestaltung der AV-Wohnen beziehe.
A) Angemessenheit der Wohnung
Die in der Sozialgesetzgebung geforderte Angemessenheit bezieht sich im Wesentlichen auf die Begrenzung des Standards und des Mietpreise. Mit der geforderten Orientierung „am unteren Segment des örtlichen Wohnungsangebotes“ sollen ‚unangemessen hohe‘ Wohnverhältnisse ausgeschlossen werden. Diese Logik verkehrt die bisherigen Grundsätze der Wohnungspolitik, die etwa im Rahmen von Förder- und Sanierungsprogrammen qualitative Standards der ‚Angemessenheit‘ formulierte. Die angestrebte Versorgung von breiten Schichten der Bevölkerung zielte eben auch auf eine Versorgung mit modern ausgestatteten und zeitgemäßen Wohnungen.
Die Berliner Mietspiegeldaten zeigen jedoch, dass insbesondere die mehr als 150.000 Halb- und Substandardwohnungen der Stadt mit über 95 Prozent die höchsten Anteile von Wohnungen innerhalb der Bemessungsgrenzen der AV-Wohnungen aufweisen.
Es besteht dadurch die Gefahr, dass ALG-II-Bedarfsgemeinschaften auf der Suche nach einer ‚angemessenen‘ Wohnungsmiete auf diese Bestände mit unangemessener Qualität zurückgeworfen werden. Insbesondere in den Ostberliner Sanierungsgebieten ist schon jetzt eine Konzentration ärmerer Haushalte in den wenigen noch unsanierten Beständen zu beobachten. Diese Entwicklung unreguliert zuzulassen hieße, ein Zwei-Klassen-Wohnen in Kauf zu nehmen.
Dies kann nicht das Ziel einer Wohnungspolitik sein, zumal die Modernisierungsspielräume in den Substandardwohnungen keine langfristige Wohnsicherheit für ALG-II-Bedarfsgemeinschaften bieten können. Schon die demnächst geforderten energetischen Sanierungsmaßnahmen können dort zu erheblichen Mietsteigerungen führen.
Die Festlegung der Angemessenheitsgrenzen sollte sich daher stärker als bisher an den unterschiedlichen Preisstrukturen der Baualterklassen orientieren und die Mietpreise der Halb- und Substandardwohnungen unberücksichtigt lassen, denn das Versorgungsziel sollte sich auch im Bereich des ALG II an modernen und zeitgemäßen Wohnstandards orientieren.
B) Zugang zur Wohnungsversorgung
Ein weiteres zentrales Problem der AV-Wohnen ist die Zugänglichkeit von Wohnungen für ALG-II-Bedarfsgemeinschaften. Die grundgesetzlich geschützte Freizügigkeit der Wohnortwahl darf dabei – auch und v.a. mit Blick auf die drohenden Segregationsdynamiken in der Stadt – nicht durch rigide Bemessungsgrenzen eingeschränkt werden. Insbesondere die im Gesetz geforderte Orientierung am unteren Preissegment kann in ausdifferenzierten Wohnungsmärkten wie Berlin nicht auf einem gesamtstädtischen Kontext bezogen werden, wenn Konzentrationsprozesse vermindert werden sollen. Schon jetzt haben sich einige Nachbarschaften regelrecht zu Hartz-IV-freien-Zonen entwickelt. So liegen die Wohnkosten in den modernisierten Altbauten der Ostberliner Sanierungsgebiete fast ausnahmslos über den Bemessungsgrenzen. Dies steht nicht nur dem allgemeinen Versorgungsauftrag der Sozialgesetzgebung, sondern auch den ursprünglichen Sanierungszielen in den Stadterneuerungsgebieten entgegen.
Die in den Anträgen vorgeschlagenen Richtwertüberschreitungen in Gebieten mit weniger als 10 Prozent Leistungsempfangenden kann dabei als Schritt in die richtige Richtung gesehen werden. Ein dauerhafte und relevante Durchlässigkeit der örtlichen Wohnungsmärkte wird sich jedoch nur durch eine Kombination mit anderen wohnungspolitischen Instrumenten erreichen lassen. So könnten beispielsweise die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften angehalten werden, insbesondere in solchen Aufwertungsgebieten gezielt an ALG-II-Bedarfsgemeinschaften zu vermieten. Im Zusammenspiel mit möglichen Richtwertüberschreitungen in solchen Gebieten könnte es sogar aus einer finanzpolitischen Perspektive Anreize für solch eine protagonistische Vermietungspraxis geben.
Neben den örtlich differenzierten Wohnungsmärkten sind für die Frage des Zugangs zur Wohnungsversorgung vor allem die Differenzen zwischen Bestands- und Neuvermietungsmieten relevant. Insbesondere die deutlich höheren Neuvermietungsmieten sollten daher bei der Richtwertfestlegung berücksichtigt werden. Dies durch eine andere Mietspiegelberechnung (mit einer stärkeren Berücksichtigung der Neuvermietungen) durchzuführen, wie dies der Antrag anregt, kann negative Effekte auf das allgemeine städtische Mietniveau haben, da ja Mietspiegelwerte auch für die Begründung von Bestandsmieterhöhungen herangezogen werden können. Eine andere Möglichkeit könnte in einer Richtwertfestlegung auf der Grundlage einer parallelen Auswertung von Bestandsmieten- und eines Neuvermietungsmietspiegels liegen.
C) Schutz der bestehenden Wohnung und Vermeidung erzwungener Umzüge
Die Anträge argumentieren in diesem Zusammenhang oft mit dem übergeordneten Leistungsziel der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Aus einer soziologischen Perspektive kommen gerade für ökonomisch benachteiligte Haushalte die oftmals quartiersbezogenen Kompensationsressourcen der Lebensführung hinzu. Mit der Wohnung sind oftmals soziale Netze in der Nachbarschaft verbunden, die einen Teil der ökonomischen Benachteiligung abfedern bzw. auffangen können. In anderen stadtpolitischen Programmen wie etwa dem Quartiersmanagement werden sogar Fördermittel zur Stärkung dieser Ressourcen ausgegeben. Unfreiwillige Umzüge sollten daher so lange wie möglich vermieden werden. Die bisher geltende Ein-Jahres-Regelung konnte den Umzugsdruck durch Kostensenkungsaufforderungen erheblich eindämmen. Die Bundesratsinitiative ist daher zu begrüßen, auch wenn sie zunächst keine direkte Entspannung bringen wird. Über die im Antrag benannten Beratungen bei Kostensenkungsverfahren hinaus, sind möglicherweise weitere Unterstützungen durch die Jobcenter oder die zuständige Senatsverwaltung denkbar. In anderen Kommunen (v.a. kleineren Städten) gibt es Versuche der Stadtverwaltungen direkt mit den Eigentümern über ein Mietensteigerungsmoratorium zu verhandeln. Insbesondere im Fall von Richtwertüberschreitungen in Folge von Mieterhöhungen könnte es ein gangbarer Weg sein, Wohnungsbaugesellschaften und Hauseigentümer an die auch sozialen Pflichten des Eigentums zu erinnern. An dieser Stelle könnten auch grundsätzliche Verfahrensabsprachen mit den Interessenverbänden der Wohnungswirtschaft hilfreich sein.
(Stellungnahme zu den Anträgen der Neugestaltung der AV-Wohnen Berlin, am 29.06.2009 im Berliner Abgeordnetenhaus auf der Veranstaltung der Linksfraktion „Zuhause mit Hartz IV“)