Berlin: Lassen sich mit Gentrification Wahlen gewinnen?

Mietenpolitik und Fragen der Stadtentwicklung sind offenbar tatsächlich auf der Agenda parteipolitischer Auseinandersetzungen angekommen. Gut so! Langezeit ein völliges Nischenthema, müssen in Berlin-Mitte die Direktkandidaten für den Bundestag nun Rede und Antwort stehen, ob und wie sie eine soziale Stadtentwicklung gewährleisten wollen. Im Rahmen von sogenannten Wahlkreisdebatten mussten sich die Parteienvertreter/innen den Fragen von Leser/innen der Berliner Morgenpost stellen.

In der Anmoderation des Videoberichtes heisst es gleich im ersten Satz:

„Gentrifizierung – heisst das Thema, dass die Direktkandidaten in Mitte beschäftigt. Hinter dem Begriff verbirgt sich ein Verdrängungsprozess: Zunächst waren bestimmte Stadtviertel wegen niedriger Mietpreise für Studenten und Künstler attraktiv.  Durch Luxussanierungen und Modernisierungen werden  Wohnungen und Gewerbeflächen auch für Besserverdienden interessant. Die Mieten steigen, viele der Alteingesessenen müssen wegziehen, weil sie die Miete nicht mehr aufbringen können…“

Die komplette Fassung der Diskussion gibt es nachzulesen: „Berlin vor der Wahl – Wofür die Kandidaten in Mitte stehen„. Die Rollen sind relativ klar verteilt, Klaus Lederer (Linke) und Wolfgang Wieland (Grüne) wollen Mietsteigerungen irgendwie beschränken, Christian Burholt (CDU) und Kurt Lehner (FDP) fänden es eher problematisch, in Marktprozesse einzugreifen und Eva Högl (SPD) laviert zwischen allen Positionen. Den Kandidat/innen ist im Gespräch deutlich anzumerken, dass sie nicht wirklich ‚vom Fach‘ sind, und eher versuchen mit Allgemeinplätzen auf die Fragen zu reagieren.

So lässt uns etwa  Eva Högl wissen, dass sie gegen Verdrängungsprozesse einsteht und eine Traditionsbäckerei in der Sophienstraße und unterstützt. Das ist aller Ehren wert, doch leider fällt ihr Statement zum Thema Mietenpolitk weniger engagiert aus:

Eva Högl (SPD): Wir brauchen nicht generell ein neues Mietrecht. Wir brauchen eine sensible Stadtentwicklungspolitik. Da müssen alle Ebenen zusammenwirken. Ich will das Thema Verdrängung nicht bagatellisieren. Aber Kieze und Stadtteile verändern sich. Das birgt auch Chancen.

Auch Christian Burholt sieht keinen mietenpolitischen Handlungsbedarf:

Christian Burholt (CDU): Im Bezirk Mitte konnten wir nicht ernsthaft erwarten, dass nach der Wende alles so bleibt, wie es ist. (…)  Die Sanierung war von allen gewünscht und gewollt. Da musste Geld in die Hand genommen werden. Das muss refinanziert werden. Deswegen ist wahrscheinlich ein gewisser Bevölkerungsaustausch unvermeidbar.

Dass dieser „gewisse Bevölkerungsaustausch“ in den Sanierungsgebieten bei etwa 80 Prozent liegt, sollte da nicht weiter stören. Einziger Denkfehler der Argumentation vielleicht: die von „allen gewünschte“  Sanierung bringt den meisten der früheren Bewohner/innen nicht sehr viel, weil sie nicht mehr in den sanierten Nachbarschaften wohnen. Klaus Lederer und Wolfgang Wieland wollen im Gegensatz zu den Regierungsvertreter/innen das Mietrecht ändern und sehen die Sanierungsfolgen eher kritisch.

Klaus Lederer (Linke): Wir haben in Alt-Mitte in bestimmten Regionen tatsächlich ein Verdrängungsproblem. Die Sanierung in den letzten 20 Jahren ist doch ziemlich rabiat gelaufen. Die klassischen Mittel des Milieu- und Sanierungsrechts haben da versagt, sie reichen nicht. Aber wenn die Mittel des klassischen Sanierungsrechts nicht funktionieren, ist im Mietrecht etwas faul. Die Bestandsmieten fließen nur zu einem sehr geringen Teil in den Mietspiegel ein, der de facto ein Mieterhöhungsinstrument ist. Das kann man bundesrechtlich ändern. Man kann auch fragen, weshalb nach drei Jahren die Miete um 20 Prozent erhöht werden kann. Es gibt durchaus die Möglichkeit, erstens die Erhöhungsspannen zu verringern, sie zum Beispiel an Inflationswerte zu koppeln. Und wieso nach drei Jahren? Es könnten auch vier, fünf, acht Jahre sein.

Wolfgang Wieland (Grüne): Erst kommen die Kreativen, die jungen Leute. Dann kommen die Investoren. Dann kommen die Menschen mit Geld, und dann ist der letzte Mieter weg. So ist das in Prenzlauer Berg gelaufen. So läuft das in einem Teil von Alt-Mitte. Das kann die Politik nicht akzeptieren. (…)  Man muss gegen diesen Verdrängungsprozess etwas machen. Es gibt viele Stellschrauben auf Bundesebene. Wir wollen eine Kappungsgrenze von 15 Prozent oberhalb des Mietspiegels als höchstzulässige Miete bei Neuvermietung. Wir wollen auch den Spielraum, alle drei Jahre die Bestandsmiete um 20 Prozent zu erhöhen, heruntersetzen.

Die Positionen klingen natürlich ersteinmal sehr vernünftig, dennoch stehen sie ein wenig im Verdacht, von der  landes- uind bezirkspolitischen Verantwortungen für die verfehlte Sanierungspolitik abzulenken, die Linke und Grüne in den Sanierungsgebieten ja durchaus haben. Den bunten Reigen von politischen Positionen beschließt Kurt Lehner von der FDP mit der nicht unerwarteten Position eines Marktradikalen:

Kurt Lehner: Man kann ja wohl eine Großstadt nicht zum Stillstand verdonnern. Eine moderne Stadt muss sich entwickeln, entfalten können. (…)  Wir müssen im Mietrecht nicht unbedingt weiter nach Möglichkeiten suchen, die Mietentwicklung zu stoppen. Das bedeutet letztendlich, was die DDR in Prenzlauer Berg gemacht hat: Ruinen schaffen ohne Waffen. Wenn man Verbesserung in der Wohnqualität haben will, muss man auch Investitionen zulassen.

Insgesamt also wenig Überraschendes, aber dennoch ein gutes Zeichen, dass sich die Kandidat/innen mit dem Thema befassen müssen. Interessant auch, dass es von niemandem in der Runde, den Versuch gab, den Verdrängungsbefund zu widerlegen. Offenbar ist es inzwischen Konsens, die nicht zu übersehenden Verdrängungsprozesse der vergangenen Jahre anzuerkennen. Unterschiede der politischen Positionen werden jedoch in der Bewertung dieser Verdrängungseffekte deutlich. Diese Naturalisierungsargumentationen bedeuten jedoch auch, dass die Kandidat/innen  inzwischen offensichtlich keine Stimmenverluste befürchten, wenn sie  Pro-Verdrängungs-Positionen einnehmen. Das ließe sich als erschreckende Verschiebung stadtpolitischer Diskursmuster interpretieren und gibt uns einen tiefer Einblick in den vermuteten Wertehaushalt des jeweiligen Parteiklientels. Erstaunlich allenfalls, dass auch Wolfgang Wieland die Sanierungspolitik so heftig kritisiert, schließlich sind es die Grünen, die in den Aufwertungsgebieten als einzige Partrei kontinuierliche Stimmenzuwächse verzeichnen konnten.

2 Gedanken zu „Berlin: Lassen sich mit Gentrification Wahlen gewinnen?

  1. ah ja, wenn die schon so im Element sind, dann wir es den Mitte-Kandidaten sicher leicht fallen,noch vor der Wahl unseren kleinen Fragenkatalog zu beantworten, den wir ( bin-berlin.org, mauerpark-fertigstellen.de und AI Martashof.org ) an ALLE übersendet haben; erster Rücklauf übrigens vom Kandidaten für das Bedingungslose Grundeinkommen Ralph Boes….

    die Adressaten:
    http://www.bundeswahlleiter.de/de/bundestagswahlen/BTW_BUND_09/wahlbewerber/wahlkreis/l11/bewerber_direkt_76.html

    der Wortlaut der Fragen:
    sehr geehrte…
    als Direktkandidat/in im Wahlkreis 076 Berlin-Mitte ist Ihnen gewiss bekannt, dass in Alt-Mitte und im Wedding, die zu diesem Wahlkreis gehören, aber auch im benachbarten Prenzlauer Berg und mittlerweile auch in ganz Berlin und darüber hinaus die Pläne des Baustadtrates des Bezirks Mitte Herrn Ephraim Gothe und der Vivico Real Estate zur Bebauung des Mauerparks außerordentlich kontrovers diskutiert werden, vor allem auch im Zusammenhang mit den Bauplänen an der Bernauer Straße.

    Wir vom BürgerInitiativen-Netzwerk BIN-Berlin und der Initiative Mauerpark-Fertigstellen meinen nun, dass die WählerInnen im Bezirk Mitte Ihre politische Positionierung zu diesem Thema erfahren sollten, deshalb erlauben wir uns Ihnen folgende Fragen stellen:

    1. Wie stehen Sie zu den Plänen zur Bebauung des Mauerparks wie sie der Baustadtrat des Bezirks Mitte Herr Ephraim Gothe und die Vivico Real Estate in dieser Planstudie vorgelegt haben und http://mauerpark-fertigstellen.de/images/neuergothe_plan.jpg sie am 4. November 2009 dem Ausschuss für Stadtentwicklung der Bezirksverordnetenversammlung Mitte vorgestellt werden sollen?

    2. Wie stehen Sie generell zu dem Problem der innerstädtischen Verdichtung, wie es sich in besonders krasser Art und Weise bei den Bauprojekten Marthashof und Kastaniengärten in der Schwedter Straße, sowie in der geplanten 9-geschossigen durchgehenden Bebauung an der Bernauer Straße, also an der Grenze zwischen den Bezirken Prenzlauer Berg und Mitte zeigt?
    http://marthashof.org/?p=Blog
    http://marthashofblog.blogspot.com/2009/08/marthashof-klaustrophobie-unter.html
    http://www.stadtentwicklung.berlin.de/planen/b-planverfahren/de/oeffauslegung/1-40/index.shtml

    Wie sehen Sie die sozialen Konsequenzen dieser Verdichtung, im Besonderen im Hinblick auf Begriffe wie Gentrifizierung und Aufwertung?
    Wie beurteilen Sie die ökologischen Konsequenzen dieser Flächenversiegelung?

    3. Vielfach gehen derartigen Problematiken eine Privatisierung des öffentlichen Eigentums voraus: sollte es bei der Entscheidung über Privatisierung von öffentlichem Eigentum eine Bürgerbeteiligung geben, und wie sollte diese sich gegebenenfalls gestalten ?

    Über die Beantwortung unserer Fragen möglichst umgehend per E-Mail (bitte auch an kontakt@mauerpark-fertigstellen.de) würden wir uns sehr freuen; damit wir Ihre Antwort der Öffentlichkeit noch vor dem Wahltag am 27.09.2009 kundtun können, sollte diese aber keinesfalls nach dem kommenden Donnerstag, dem 24.09.2009 eingehen.

    Mit freundlichen Grüßen

    Jörg Schleicher

    von der AnliegerInitiative Marthashof für BIN-Berlin.org und Mauerpark-Fertigstellen.de

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