Berlin: Was die Piraten mit 30 Jahren Häuserkampf zu tun haben

Der Hype um den überraschenden Wahlerfolg der Piratenpartei wird vielfach vom Image des jungendlichen und unverbrauchten Politikstils der Generation Internet getragen. Doch ein Blick zurück in die Berliner Geschichte zeigt: Piraten hin oder her – Protestparteien hatten in Zeiten der Wohnungskrise immer gute Chancen. Anfang der 1980er Jahre gerieten die bisherigen Konzepte der Stadt- und Wohnungspolitik endgültig aus den Fugen und 150 besetzte Häuser markierten einen Wendepunkt. Auf der Woge der Unzufriedenheit und des Protestes zog 1981 die Alternative Liste (AL) – der Berliner Vorgänger der heutigen Grünen – erstmals ins Abgeordnetenhaus ein.

Auch 30 Jahre später erscheinen Wohnungskrise und Protestwahl als zwei Seiten der selben Medaille. Die wahlkreisbezogene Stimmenverteilung der Piratenpartei ist nahezu deckungsgleich mit den aktuellen Mietsteigerungsdynamiken in Berlin: je höher die Mietsteigerungen, desto mehr Stimmen für die Piratenpartei. In 22 der insgesamt 78 Wahlkreise erzielte die Piratenpartei mehr als 10 Prozent der abgegebenen Stimmen – 19 davon liegen in den von Gentrification-Prozessen erfassten Altbauquartieren von Friedrichshain-Kreuzberg, Nordneukölln, Prenzlauer Berg, südliches Lichtenberg und Alt-Treptow.

So ungefähr sieht der idealtypische Stadtraum von Wähler/innen der Piratenpartei aus.

Zugegeben, solche Zahlenspielereien haben nur einen begrenzten Erklärungswert – ein Blick zurück in die Geschichte kann sich dennoch lohnen:

  • Auch die Berliner Zeitung interessierte sich für Thema und hat mich nach den Parallelen zwischen den aktuellen Mieterprotesten und der Hausbesetzerbewegung vor 30 Jahren  befragt: „Die selben Ursachen„.

„Die selben Ursachen“

Der Sozialwissenschaftler Andrej Holm von der Humboldt-Universität macht Parallelen zwischen den aktuellen Mieterprotesten und der Hausbesetzerbewegung aus. Holm gilt als Experte für Themen wie Stadterneuerung und Wohnungspolitik im internationalen Vergleich, betreibt im Internet einen „gentrification-blog“ und war Anfang der 1990er-Jahre selbst in der Besetzerszene aktiv.

Interview: Andrea Beyerlein

Herr Holm, gerade gab es die erste Mieterdemo seit Jahren. Der Unmut über Mietsteigerungen und Verdrängungsprozesse nimmt zu. Ist das der Beginn einer neuen Bewegung?

Es gibt zwei Aspekte, die bei dem Aufkommen von sozialen Bewegungen immer eine Rolle spielen. Es muss ein Problem geben, dass viele Menschen bewegt. Das ist in der Mietenfrage zumindest in der Innenstadt seit zwei, drei Jahren der Fall. Es trifft nicht nur arme, sondern auch Mittelstandsfamilien. Eine solche Situation gab es in Berlin in den letzten 15 Jahren nicht. Eine zweite Voraussetzung ist gegeben, wenn die bestehenden politischen Parteien keine überzeugenden Antworten bieten können. Auch das trifft zu.

Die Piratenpartei hat in den Innenstadt-Kiezen ihre größten Erfolge. Gibt es einen Zusammenhang?

Ja, das ist die klassische Protestpartei. Das haben früher die Grünen und Anfang der 90er teils auch die PDS verkörpert. Die Piraten wurden nicht gewählt, weil sie Antworten zur Mietenentwicklung hätten, sondern weil die Anderen schon bewiesen haben, dass sie keine haben.

Auf dem Höhepunkt der Besetzerbewegung in West-Berlin kam die Alternative Liste, Vorläufer der Grünen, 1981 das erste Mal ins Abgeordnetenhaus. Sehen Sie Parallelen?

Auch für die frühen 80er-Jahre können wir eine wohnungspolitische Krise konstatieren. Es war die Zeit der langen Schlangen nicht nur bei den Wohnungsbesichtigungen, schon beim Kauf der Zeitungen mit den Annoncen am Sonntag. Es gab eine Baupolitik, die auf Flächenabriss und Neubau setzte und die Lage damit verschärfte. Die Besetzerbewegung ist im Wortsinn in die Leerstellen der gescheiterten Stadtentwicklungspolitik hinein gestoßen. Die AL füllte diese Lücke im Parlament. Die Ursachen sind die selben.

Der Unmut fand damals in Besetzungen ein Ventil. Heute gibt es kaum Wohnungsleerstand. Welche Spielräume bleiben?

Es gibt den klassischen Handlungsspielraum von Protestbewegungen. Die sind ja in der Regel nicht in der Lage, sich die Problemlösung selbst zu organisieren. Aber sie erzeugen Druck. Auch damals war das stadtpolitisch bedeutendste Ereignis die Durchsetzung der behutsamen Stadterneuerung in Kreuzberg. Die angebliche Alternativlosigkeit damals ist mit der aktuellen Situation vergleichbar: Jahrelang hieß es , Stadterneuerung ohne Abriss lässt sich nicht organisieren. Nach der Zäsur mit mehr als 100 besetzten Häusern und großen Straßenschlachten war das dann plötzlich kein Problem mehr.

Die erste rot-grüne Koalition zerbrach 1991 nach nur zwei Jahren wegen der polizeilichen Räumung der Mainzer Straße. Erwarten Sie bei einer möglichen Neuauflage Korrekturen in der Wohnungspolitik?

Das wird stark davon abhängen, ob der Druck von außen anhält.

Ist das ein Aufruf?

Das ist eine Feststellung. Keine der zur Debatte stehenden Parteien wird es sich leisten können, die Wohnungsfrage zu ignorieren und an den Mietern vorbeizuregieren.

In: Berliner Zeitung, 22.09.2011

7 Gedanken zu „Berlin: Was die Piraten mit 30 Jahren Häuserkampf zu tun haben

  1. Mensch Debbda,
    Ein bisschen mehr Phantasie bitte. Idealtypen sind doch immer Abstraktionen von der Wirklichkeit und mit einem bisschen guten Willen verkörpert das Beitrag abgebildete Modell 1.) innerstädtische Dichte (Häuser mit mehreren etagen)), 2.) ein quirliges Alltagsleben auf der Straße (viele Leute), 3.) eine hetergogene Bewohnerstruktur (viele Leute unterwschiedlichen Alters mit sehr verschiedenen Kleidungsstilen) und 4.) eine im Stadtraum etablierte Protestkultur (Besetztes Haus mit Transparenten und einem von breiten Teilen der Bevölkerung angenommen Kulturangebotes im Straßencafé). Und an welche Berliner Stadtbezirke erinnert dich diese Beschreibung? Richtig, die Hochburgen der Piraten. So einfach ist das mit den Idealtypen… 😉
    AH

  2. Das ist in der Tat kein Zufall, sondern eine direkte Korrelation. Auch wenn die Aufwertung bestimmter Stadtteile vorübergehend seine Vorzüge hat, habe ich aus ähnlichen Gründen Piraten gewählt. Wo ich noch vor fünf Jahren problemlos eine bezahlbare Bleibe in Reinickendorf gefunden habe, muß ich bei meinem jetzt bevorstehenden Umzug nur mal kurz die Suchmaschine anschmeißen, um zu erkennen, daß ich für den gleichen Preis in einer Besenkammer wohnen würde. Immer mehr Leute, die teils seit Jahrzehnten in einem Kiez wohnen können sich die Miete nicht mehr leisten und werden dann in der Presse frecherweise als Mietnomaden diffamiert. Ob via Piratenpartei oder außerparlamentarisch, es ist Zeit, daß sich der Protest gegen diese Zumutungen formiert, so daß er nicht mehr totgeschwiegen werden kann.

  3. Bei Piraterie (von griechisch πειρᾶν peiran, eigentlich „nehmen/wegnehmen“, über πειρατής, peirātḗs und lateinisch pirata, „Seeräuber“) oder Seeräuberei handelt es sich um Gewalttaten, Eigentumsdelikte oder Freiheitsberaubungen, die zu eigennützigen Zwecken unter Gebrauch eines See- oder Luftfahrzeugs auf hoher See oder in anderen Gebieten verübt werden
    http://de.wikipedia.org/wiki/Piraterie

    Privat (von lat. privatus, PPP von privare, „abgesondert, beraubt, getrennt“, privatum, „das Eigene“ und privus, „für sich bestehend“) bezeichnet Gegenstände, Bereiche und Angelegenheiten, die nicht der Allgemeinheit gehören bzw. offenstehen, sondern nur einer einzelnen Person oder einer eingegrenzten Gruppe von Personen, die untereinander in einem intimen bzw. einem Vertrauensverhältnis stehen.[1]
    http://de.wikipedia.org/wiki/Privat

    Auf youtube gibt es eine Reihe Vorträge unter dem Titel:

    „Für alles kein Gesetz“

    Wer verstanden hat um was es da geht, wer die tatsächlich derzeit (un)gültige Rechtslage, die Gesetze kennt weiß wie man die Verdrängung von Mietern stoppen und Spekulanten „enteignen“ kann!

    Denn Spekulanten können tatsächlich nicht „rechtswirksam“ nachweisen dass sie überhaupt als Eigentümer berechtigt sind Miete zu kassieren weil der gesamten BRD-Verwaltung durch die Bereinigungsgesetze die Rechtsgrundlage entzogen wurde!!

    Miete sollt bis zum Nachweis der Rechtmäßigkeit auf Sonderkonten gezahlt werden. Nachweis der Rechtmäßigkeit setzt eine Verfassung und „staatliche“ Ämter und Behörden voraus!

    Die BRD ist aber kein Staat sondern eine private Organisation aus der jeder austreten kann!

  4. Piraten sind wählbar, Kiez-Inis nicht. Wer hat diese Typen eigentlich zu unseren Wortführern erhoben? Ist das nicht derselbe Menschenschlag mit durchgeknallter Profilneurose, dem man auch auf der Gegenseite begegnet?

  5. Wird da nicht zuviel auf die Piratenpartei projiziert? Ich habe im zurückliegenden Wahlkampf wenig konkretes von der Piratenpartei mitbekommen. Sie bezeichnen sich als linksliberal und sind für Hanffreigabe. Sie haben keine Ahnung, wie viel Schulden die Stadt hat und sind irgendwie internetaffin. Nicht wirklich begeisternd, oder? Ich halte auch den Vergleich mit den Grünen vor 20 Jahren für überzogen. Die hatten damals konkrete Anliegen, die besetzten die Häuser mit und kamen dann ins Parlament. Mir scheint es bislang eher so zu sein, dass die Piratenpartei eine eher unpolitische Partei ist, die man jetzt als Protest gewählt hat. So wie es in dem Artikel heißt: Wir wählen die, weil wir wissen, dass es die anderen nicht können.

    Der Erfolg der Piratenpartei zeigt die Krise des Parteiensystems, der Verlust an Glaubwürdigkeit.

    Den Zusammenhang zwischen den Hochburgen der Piratenpartei und den Mietsteigerungen halte ich für nicht kausal. Es ist doch vielmehr so: Die Piratenpartei wird von einem jungen, urbanen, kreativen und intellektaffinen Milieu gewählt. Und das ist nun mal die Leute, die nac Neukölln-Nord etc. ziehen.

    Es würde mich freuen, wenn sich die Piratenpartei zu einer linken, sozialen Alternative entwickelte. Aber konkrete Gründe, die für diese Annahme sprechen, sehe ich nicht.

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