Gentrification ohne Verdrängung?

Endlich! Amerikanische Zeitungen räumen Vorurteile aus dem Weg. Unter dem Titel „Gentrification: Not Ousting the Poor?“ – immerhin noch mit Fragezeichen versehen – erklärt uns die Times, dass der Zusammenhang von Gentrification und Verdrängung ein großes Missverständnis sei.

People tend to think gentrification goes like this: rich, educated white people move into a low-income minority neighborhood and drive out its original residents, who can no longer afford to live there. As it turns out, that’s not typically true.

Eine Studie an verschiedenen US-amerikanischen Universitäten hat auf der Basis von ausgewerteten Censusdaten festgestellt, dass Haushalte mit geringen Einkommen aus gentrifizierten Gebieten nicht überproportional häufig ausziehen.

A new study … examined Census data from more than 15,000 neighborhoods across the U.S. in 1990 and 2000, and found that low-income non-white households did not disproportionately leave gentrifying areas. In fact, researchers found that at least one group of residents, high school–educated blacks, were actually more likely to remain in gentrifying neighborhoods than in similar neighborhoods that didn’t gentrify.

Insbesondere schwarze Haushalte mit geringen Bildungsabschlüssen ziehen aus diesen Gebieten sogar weniger häufig aus, als in vergleichbaren Vierteln ohne Aufwertungsprozesse.

Randall Walsh, einer der Autoren der Studie schränkt die Interpretationen der Presse zwar deutlich ein:

„We’re not saying there aren’t communities where displacement isn’t happening,“

doch die mediale Aufbereitung scheint sich einig: die Studien ‚beweisen‘, dass Gentrification gar nicht so schlimm ist. Auch die Nachrichtenagentur United Press International (UPI) greift die Forschungsergebnisse auf und veröffentlicht die Schlagzeile „Study: Gentrification benefits many blacks“ als Top News auf ihrer Webseite.

Interessant erscheinen mir weniger die Ergebnisse der Studie, als vielmehr das öffentlich-mediale Echo in diesem Zusammenhang. Bereits 2005 veröffentlichte der New Yorker Soziologe Lance Freeman ähnliche Daten unter dem Titel „Displacement or Succession?“ in einer Fachzeitschrift. Auch damals jubelten die großen Blätter: „Studies: Gentrification a boost for everyone“.

Bei genauerer Betrachtung jedoch sind die damaligen und aktuellen Ergebnisse weit weniger spektakulär. Die Untersuchungen identifizieren über hohe Durchschnittseinkommen der EInwohner/innen gentrifizierte Gebiete und vergleichen in einem zweiten Schritt Umzugsbewegungen einkommenschwacher Haushalte aus diesen Gebieten mit denen in anderen Nachbarschaften. Das heisst zum einen, die Studien können in ihrer Methodik Verdrängungsprozesse erst in der Spätphase von Aufwertungsprozessen erfassen, da ja die hohen Durschschnittseinkommen als Indikator für die Untersuchungsgebiete herangezogen werden. Zum anderen – und darauf hat der von mir hier schon zitierte Tom Slater aufmerksam gemacht – könnten die niedrigen Umzugsbewegungen ärmerer Haushalte in gentrifizierten Gebieten durchaus auch auf den Mangel an preiswerten Wohnungen in der Nachbarschaft zurückzuführen sein. Auch in den amerikanischen Großstädten findet ein Großteil der Umzüge innerhalb der selben oder in nahgelegene Nachbarschaften statt – diese Möglichkeit dürfte für einkommensschwache Haushalte in aufgewerteten Gebieten deutlich beschränkt sein. Insofern eigentlich kein Wunder, dass die Mobilitätszahlen geringer ausfallen.

Aber die Schlagzeile „Gentrification beschränkt die Freiheit der Wohnortwahl für Arme“ wäre ja auch nur halb so spektakulär gewesen…

Ein Gedanke zu „Gentrification ohne Verdrängung?

  1. Da drängt sich mir eine Frage zur normativen Wertung von Gentrifizierung auf: Ist die wirklich ausnahmslos schlecht? Daraus abgeleitet:
    Was soll mit Wohnquartieren geschehen, in denen Infrastruktur und Wohnsubstanz schlecht sind? In denen das Kapital fehlt, um für bessere Bedingungen zu sorgen?

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