Ein kleines Ratespielchen: Lesen Sie die folgenden zwei Zitate und ordnen Sie die Autor/innen richtig zu. Welches Zitat würden Sie der sozialdemokratischen Senatorin für Stadtentwicklung Ingeborg Junge-Reyer und welches Zitat würden sie dem Vertreter des Bundes der Berliner Haus- und Grundbesitzervereine „Haus & Grund“ Dieter Blümmel zuordnen:
Zitat 1: „Warum sollten wir irgendwelche bunten Mischungen schützen? Es gibt eine gesamte Stadt, in der gibt es 1,4 Millionen Wohnungen. Davon stehen 100.000 leer und da soll sich jeder seine Wohnung suchen, in die er am liebsten hin ziehen will. Es hat niemand ein Anrecht darauf, an einer ganz bestimmten Stelle für sein ganzes Leben zu einer niedrigen Miete wohnen bleiben zu dürfen.“
Zitat 2: „Gute Lagen und entsprechende Ausstattung einer Wohnung haben ihren Preis. Keiner kann und niemand muss Wohnungssuchenden garantieren, eine sanierte Stuckaltbauwohnung in 1a-Wilmersdorf- oder Prenzlauer- Berg – Lage für unter 5 €/qm Kaltmiete zu finden. Aber der entspannte Berliner Wohnungsmarkt (…) sorgt dafür dass jeder eine bezahlbare Wohnung finden kann. Es gibt einen langfristigen, d.h. mehr als 6 Monate andauernden, hohen Leerstand von 108.000 Wohnungen, kurzfristig sind sogar ständig 150.000 Mietwohnungen auf dem Markt.“
Das Zitat 1 geht auf Dieter Blümmel (rbb-Sendung Klartext: „Hohe Mieten – Wird der Mittelstand aus der City vertrieben?“ vom 11.02.2009) zurück und Zitat 2 stammt von der Stadtentwicklungssenatorin – der Unterschied ist kaum zu bemerken. Diese eigentümliche argumentative Einheit kann als Ausdruck einer Berliner Immobilien-Verwertungs-Koalition gedeutet werden, denn auch in der politischen Praxis zeigt sich, dass die Berliner Politik spätestens seit der Jahrtausendwende die Stadtentwicklung weitgehend privaten Investoren überlässt. Berlin ist damit jedoch keine Ausnahme sondern steht nur exemplarisch für den Trend einer neoliberalen Stadtpolitik, wie er sich seit über 20 Jahren weltweit in vielen Metropolen durchgesetzt hat.
In kritischen sozialwissenschaftlichen Forschungsarbeiten der 1980er Jahre finden sich einige noch heute lesenswerte Erklärungsansätze: Das nur wenig in der Stadt ohne die politische Einflussnahme der lokalen Regierungen läuft ist eigentlich vielen klar. Stadtpolitik ist grundsätzlich die Auseinandersetzung verschiedener Interessen und spiegelt die gesellschaftlichen Machtverhältnisse auf der lokalen Ebene wider. So ungefähr lernen es zumindest die Studierenden der Stadtplanung, Soziologie und Geographie, wenn sie auch nur halbwegs vernünftige Texte angeboten bekommen. Einer dieser Texte sei hier hervorgehoben:
John Logan und Harvey Molotch haben bereits in den 1980er Jahren versucht ausgehend von städtischen Machtverhältnissen eine Politökonomie der Stadtentwicklung (urban political economy) zu entwickeln. In ihrem 1987 veröffentlichen Buch Urban Fortunes: The Political Economy of Place beschreiben sie die Stadtentwicklung als einen grundsätzlichen Konflikt zwischen Interessengruppen, die eine gebrauchswertorientierte Nutzung der Stadt anstreben (insbesondere die Mieter/innen und Bewohner/innen einer Stadt) und solchen, die sich an einer tauschwertorientierte Verwertung städtischer Ressourcen orientieren (Insbesondere Immobilieneigentümer/innen, Bauunternehmen, Finanzdienstleister etc.). Die meisten städtischen Regierungen – so Logan und Molotch damals – verbünden sich mit den verwertungsorientierten Besitzklassen zu so genannten städtischen Wachstumskoalitionen. Die nahezu identischen Aussagen der Stadtentwicklungssenatorin und des Bundes der Berliner Haus- und Grundbesitzervereine legen zumindest nahe, dass sich eine entsprechende Immobilien-Verwertungs-Koalition auch in Berlin herausgebildet hat.
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