Heute Abend gibt es im Rahmen des Achtung Berlin Filmfestivals im Berliner Kino Babylon die Weltpremiere des Dokumentarfilms „Lychener 64„. Der Film dokumentiert über den Verlauf von über zwei Jahren die Modernisierungsarbeiten im gleichnamigen Haus im Sanierungsgebiet Helmholtzplatz in Berlin Prenzlauer Berg. Die Mieter/innen des Hauses werden vom ersten Schock der Modernisierungsankündigung über die Verhandlungen mit dem Eigentümer und die Beratungsgespräche der Mieterberatung bis zum bitteren Auszug begleitet. Alle wollten bleiben, keiner ist geblieben. Das Beispiel der Lychener Straße 64 zeigt eindrücklich, wie die Ökonomie der Umwandlungsmodernisierung gegen die Interessen der bisherigen Bewohner/innen durchsetzt wird. Von Beginn an war klar, dass die Wohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt werden sollten und die Spielräume für die Bewohner/innen denkbar gering sein werden. In der taz gibt es ein tolles Interview mit Teresina Moscatiello und Jakob Rühle, die den Film gedreht und selbst im Haus gewohnt haben: „Den Ausschlag gab die Abfindung“.
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Der offizielle Kinostart folgt dann am kommenden Donnerstag (22.04.2010) mit einer Vorstellung um 20 Uhr ebenfalls im Babylon. In der Kurzdarstellung von Sinafilm heisst es zum Film:
Dokumentarfilm von: Jakob Rühle, Fabio Dondero, Teresina Moscatiello
Eine Gemeinschaftsproduktion von Sinafilm und Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb): 20 Jahre nach der Wende ist das größte Stadterneuerungsprojekt Europas beinahe beendet. Im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg wird eines der letzten maroden Häuser saniert: Das Mietshaus Lychenerstraße 64. Über zwei Jahre begleitet der Film das Haus und seine Bewohner im Ausnahmezustand und beobachtet die allmähliche Transformation vom selbstbestimmten Leben im Substandard zur Anpassung an die Norm. Lychener 64 führt Gentrifizierung als erlebte Realität vor Augen und schlägt mit der Montage von historischem Filmmaterial den Bogen zur wechselhaften Geschichte des Prenzlauer Bergs, die immer auch ein Kampf um Wohn-Raum war und ist.
Am Samstag, 24.04.2010 (Filmbeginn ebenfalls 20 Uhr) gibt es eine kleine Diskussion mit den Filmemacher/innen, zu der ich auch geladen bin.
Termine an denen der Film zu sehen sein wird:
achtung berlin – Filmfestival
15. April um 20:15 Uhr, BABYLON Mitte
17. April 19:45 Uhr, Passage Neukölln
18. April 22:30 Uhr, Filmtheater am Friedrichshain
Ab dem 22. Mai im BABYLON Berlin – Mitte
22. April um 20:00 Uhr,
24. April 20:00 Uhr,
25. April 18:00 Uhr,
28. April 19:30 Uhr
vom 29. April bis 5. Mai um 19:45 Uhr
Die Protagonist/innen des Films stehen für das Nachwendemilieu in den Ostberliner Altbaugebiete: eine wilde Mischung aus Ostdeutsche die seit den 1980er Jahren in ihren Wohnungen leben, kurz nach der Wend zugezogene Wessis und ukrainische Gegenheitsarbeiter. Meine Lieblingsszene ist unbestritten eine Interviewsequenz mit Simone, die seit 1987 mit ihrem Sohn und acht Papageien in einer großen teilrenovierten Wohnung lebt – inklusive Fußbodenheizung für die Vögel – und das Gerde vom angeblichen Substandard so gar nicht verstehen will, weil sie sich ja genau so wohlfühlt, wie sie es sich über die Jahre eingerichtet hat.
„wenn mir irgendeiner erzählen will, dat ick schlecht leb, kann ick nur sagen, der hat ’nen Ei aufm Kopp… Deswegen regt mich das auch gar nicht uff, wenn die mir sagen, ich lebe Substandard, weil ick immer noch der Meinung bin, ick lebe viel besser wie sie…“
Ein deutlicheres Beispiel kann für die mit der Modernisierung einer Wohnung immer einhergehende Diskrepanz zwischen Gebrauchswerten (wie Simone leben will) und Tauschwerten (den Standard, den der Eigentümer möchte) kaum gefunden werden.
Viele Passagen im Film zeigen zudem, wie hilflos die bezirklichen Instrumente der angeblich behutsamen Stadterneuerung gegenüber den Investoren und ihren Intentionen wirken. „Lychener 64: Ein sehenswerter Film der zeigt, was Stadterneuerung für die Bewohner/innen bedeutet!
Am Dienstag wird auf EinsPlus um 21 Uhr nochmal eine kleinere SWR-Doku zu ähnlichem Thema wiederholt:
„Chronik einer Entmietung“ (geht um Heidelberg)
http://www.swr.de/betrifft/entmietung-protest-vertreibung/-/id=98466/nid=98466/did=6089618/9v7sek/index.html
das gute an dem film ist, dass die thematik überhaupt beleuchtet wird. das schlechte: er bleibt oberflächlich zahm und verliert sich in den charakteren. ein film, der sich nichts traut.
zwar ist es angmessen, als dokumentarfilmer distanz zu behalten und diese filmisch zu beachten. wahrscheinlich, weil die filmemacher keine distanz haben – sie wohnten selbst im haus – wird diese bemüht hergesetellt – was nicht gut gelingt, sondern zur verflachung führt.
zwei wichtige schlüsselprotagonisten gibt es: simone (die mit den vögeln) und der junge ukrainer (?). während simone teilweise der lächerlichkeit preisgegeben wird (an den publikumsreaktionen zu merken), fehlt beim ukrainer die auflösung seiner auseinandersetzung mit dem hausverwalter die bei der premiere erst erfragt werden musste.
schade um den film. vielleicht schneiden die filmemacher aus den insgesamt 80 stunden material ja noch einmal eine neue Version zusammen.
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Da muss ich ja glatt noch darauf hinweisen, dass sich die Chefs des Babylon Mitte sozusagen als die skupelosen Modernisierer unter den Kinobetreibern erwiesen haben. Die Belegschaft des Kinos kann ein Liedchen davon singen, das den Erfahrungen so mancher Prenzlauer Berger MieterIn nicht nachstehen dürfte. Die einen scheren sich eine Dreck um Mieterrechte und ziehen die Hausbewohner übern Tisch, die andere versündigen sich am Arbeitsrecht. Und das in einem mit viele Geld geförderten kommunalen Kino.
Mehr dazu im Blog „Prekäres Babylon“:
http://prekba.blogsport.de/
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