Berlin: Neukölln in den Kollwitzplatz verwandeln? (Radiofeature)

Der Norden Neuköllns verändert sich rasant. Die Mieten steigen, Kneipen und Cafés eröffnen. Zahlungskräftigeres Publikum zieht her. Damit einher geht auch eine beginnende Verdrängung der bisherigen Bevölkerung. Gentrification, so nennt sich das stadtpolitische Phänomen, das ähnlich und zum Teil weiter fortgeschritten auch in anderen Berliner Bezirken wie Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Kreuzberg beobachte werden kann. Maßnahmen des Berliner Senats wie die Quartiersmanagements und die Ausrufung von Sanierungsgebieten schieben diesen Prozess an und begleiten ihn.

Um auf diese Situation aufmerksam zu machen hat sich die Avanti-Sozial-AG Ende letzten Sommers in Neukölln umgeschaut und ein Radiofeature produziert, das über die aktuelle Situation aufklären und die wichtigen Akteure benennen will. Es wurden u.a. Interviews mit dem Quartiersmanagement Reuterkiez und dem Vorsitzenden von Haus und Grund Neukölln geführt. Wir wollen so noch einmal nachdrücklich auf die Entwicklung nicht nur in Nordneukölln, sondern in Gesamtberlin aufmerksam machen: denn überall innerhalb des S-Bahn-Rings steigen die Mieten.Radiofeature zum runterladen: Nordneukölln in den Kollwitzplatz verwandeln? (53 min.).

Begleitend zum Radiofeature gibt es ein kleines Booklet (pdf) mit vielen Informationen und einer stadtpolitischen Positionierung der AVANTI-GRuppe in Berlin.

Nordneukölln in den Kollwitzplatz verwandeln?

Der Traum vom Rand ist ausgeträumt. Neukölln – Symbolische und reale Aufwertung. Eine Erkundung.

GENTRIFIZIERUNG IM NORDEN NEUKÖLLNS

„Den Effekt der Prenzlauerbergisierung, den wird es hier nicht geben“,sagt Reinhold Steinle, der in Neukölln Stadtteilführungen macht. Das sei zumindest seine Hoffnung. Aber längst ist klar: Der Norden Neuköllns verändert sich: mehr junge Leute, mehr Student_innen, neue Kneipen, Cafés und Galerien, der Bezirk und der Berliner Senat bemühen sich um die ‚Aufwertung‘ des Viertels – und die Mieten steigen rasant an. Der Begriff „Gentrifizierung“ ist längst in aller Munde. Was aber sind die Gründe für die Entwicklung in Neukölln? Was ist „Gentrifizierung“ überhaupt? Und wer treibt sie voran?

Das Radiofeature „Neukölln in den Kollwitzplatz verwandeln?“ untersucht den Norden Neuköllns im Spätsommer 2009 und verschafft einen Überblick zum Status quo der Gentrifizierung. Ausgehend vom Reuterkiez, mittlerweile medial und auf dem Wohnungs- und Kulturmarkt als „Kreuzkölln“ bekannt, thematisiert das Feature den Prozess der Gentrifizierung in einem der Berliner Kieze, über den es noch vor drei Jahren im SPIEGEL hieß, es gehe dort zu „wie einstmals in der Bronx“. Dabei nimmt es auch die sich seit Jahren verschlechternde Situation auf dem Berliner Wohnungsmarkt in den Blick. In dem Feature äußern sich ein Vertreter der Berliner Mietergemeinschaft, der Stadtsoziologe Andrej Holm, das Quartiersmanagement Reuterkiez, der Vorsitzende von Haus und Grund Neukölln, der lokale Unternehmerstammtisch Punkt 20 e.V., die Neuköllner Kiezgruppe und zahlreiche Anwohner_innen. So zeichnet der Radiobeitrag ein Bild des komplexen Prozesses in Nord-Neukölln, den Andrej Holm als „Gentrifizierung in Wartestellung“ bezeichnet.

Dass die ‚Aufwertung‘, die sich bisher vor allem symbolisch als Imageveränderung des Kiezes äußert, bereits ganz reale Folgen hat, bezeugen die Anwohner_innen: Insbesondere Familien, die die steigenden Mieten nicht zahlen können und in Neukölln keinen bezahlbaren Wohnraum mehr finden, müssen wegziehen – ein schleichender Prozess, der sich in den nächsten Jahren noch beschleunigen werde, sagt Joachim Oellerich. Das Mitglied der Berliner Mietergemeinschaft befürchtet, dass es in naher Zukunft in Berlin zu einer allgemeinen Wohnungsnot komme.

Auch wenn einige Vertreter des rot-roten Senats, wie der SPD-Abgeordnete Fritz Felgentreu, inzwischen selbst von Gentrifizierung in Berliner Stadtteilen sprechen (und gleichzeitig die Gegner_innen dieser Entwicklung mit „aggressiven Pöbeleien, […] Einbrüchen und Zerstörungen“ in Verbindung bringt), tut der Senat wenig, diese Entwicklung aufzuhalten. Im Gegenteil: Erstens betreiben die politisch Verantwortlichen zusammen mit den Quartiersmanagements (QMs) eine Kiezpolitik, die Ansätze von Bildungs- und Kulturarbeit beinhaltet (die vor allem dem so genannten „Standortmarketing“ dient), sowie neue Bewohner_innen und Gewerbe anwirbt und Immobilieneigentümer_ innen vernetzt. Zweitens steigt der Senat immer mehr aus der sozialen Wohnungspolitik aus, orientiert sich deutlich an einer neoliberalen Standortpolitik, welche die Stadt nach unternehmerischen Kriterien führt,undbaut schlecht bezahlte Niedriglohn- und Ein-Euro-Jobs flächendeckend aus.

Leuchtendes Beispiel für die gezielte politische Steuerung dieser ‚Aufwertung‘ ist die SPD-Senatorin für Stadtentwicklung,IngeborgJunge-Reyer. Die Senatorin ist zuständig für das Großinvestorenprojekt Mediaspree, den Ausbau der umstrittenen Stadtautobahn A 100 und die Nachnutzung des Flughafens Tempelhof. Auf Gentrifizierung angesprochen, spielt sie den Lila-Laune-Bär. So sagte sie gegenüber dem Tagesspiegel, die Veränderung des Kollwitzplatzes im Prenzlauer Berg, einer der seit langem gentrifizierten Kieze, aus dem nach Studien bis zu 50 Prozent der ehemaligen Mieter_innen verdrängt wurden, war eine „behutsame Stadtentwicklung“. Es werde „niemand in ein Randgebiet verdrängt“.

Mit dem Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD) ist Junge-Reyer auch für das Sanierungsgebiet Karl-Marx-Straße verantwortlich. Zusammen mit Unternehmern und Künstlern initiierten sie die „Aktion! Karl-Marx-Straße“, die sich um Kultur- und Wirtschaftsmarketing sowie um einen Imagewechsel Neuköllns be- müht und ebenfalls an den geplanten Sanierung beteiligt ist. Die Karl-Marx- Straße soll „wieder eine erfolgreiche Einkaufsstraße werden“. „Jung, bunt, erfolgreich“ ist das vielsagende Motto für die ‚Aufwertung‘, die teilweise schon begonnen hat. Auch wenn zunächst nur die Verkehrsführung umgebaut werden soll, ist das Ziel, auf das die Sanierungsmaßnahmen hinauslaufen, deutlich formuliert: Der „Stadtraum“ soll zum „Erlebnisraum“ werden – ein „Erlebnisraum“ in einem Viertel, das, wie neueste Studien noch einmal gezeigt haben, mit Abstand zu den ärmsten Berlins gehört. Das gesamte Sanierungsgebiet umfasst neben der Karl-Marx-Straße auch sämtliche Sei- tenstraßen sowie die ehemalige Kindl-Brauerei und den Karl-Marx-Platz. So wie die QMs in den Kiezen von privaten Firmen wie der Brandenburgischen Stadterneuerungsgesellschaft aus Potsdam betrieben werden, so sind Unternehmen auch in die Ausarbeitung der Sanierungspläne eingebunden. Der Berliner Senat setzt damit weiterhin auf die Privatisierung öffentlicher Angelegenheiten.

Ebenfalls will der Senat das Gebiet zwischen Sonnenallee und Landwehrkanal zum Sanierungsgebiet erklären. Der Neuköllner Baustadtrat Thomas Blesing (SPD) schließt in diesem Zusammenhang nicht aus, dass es zu Verdrängungen kommen werde; und auch der Sanierungsplan formuliert nicht explizit, dass die jetzigen Bewohner_innen des Viertels bleiben sollen.

Ähnliche Programme will die Politik auch am südlichen Ende der Karl-Marx-Straße umsetzen. Unter dem Namen „Stadtumbau West Neukölln-Südring“ soll hier der „Wirtschaftsstandort“ Neukölln gestärkt werden, gerade auch in Erwartung einer gesteigerten Nachfrage wegen des Ausbaus des Flughafens Schönefeld, der manche schon von Neukölln als die „neue Mitte Berlins“ phantasieren lässt. Diese Maßnahmen werden die ‚Aufwertung‘ und ihre sozialen Folgen wesentlich beschleunigen.

Gleichzeitig zu der sich verschlechternden Situation für Mieter_innen greifen Politik und QM mit ordnungspolitischen Maßnahmen in die Entwicklung der Kieze ein. Hierbei wird zumeist mit dem Sicherheitsbedürfnis der Anwohner_innen argumentiert. Dafür werden zahlreiche Ein-Euro-Jobber in Neukölln zur „Stadtbildpflege“ eingesetzt und als Hilfssheriffs missbraucht (zum Beispiel die sogenannten „Kiezläufer“). Das im Schillerkiez ansässige QM machte kürzlich mit der so genannten „Task Force Okerstraße“ Schlagzeilen. Unter dieser Bezeichnung will das QM für ein „sicheres Wohnumfeld“ sorgen, welches zur Zeit durch „Trinkergruppen“ sowie „Kinder und Jugendliche vorwiegend aus Roma-Familien“ verunsichert werde. In dem Konzeptpapier zur Einrichtung der Task Force (nicht zufällig ein Begriff aus dem militärischen Sprach- gebrauch) werden Roma in rassistischer Weise mit Betteln in Verbindung gebracht, sowie mit Beschaffungskri- minalität, Prostitution und Schwarzarbeit. Zu den Lösungsvorschlägen des QMs gehört unter anderem die Einrichtung von „Hauswartwohnungen“ zur besseren Überwachung. Vorgesehen ist eine Koordination mit dem Schul- und Jugendamt, dem Ordnungs- amt und der Polizei. Allerdings hat das Projekt durch zahlreiche Proteste mit- tlerweile starken Widerstand erfahren.

Proteste gibt es auch gegen die allgemeine ‚Aufwertung‘. Es gab Demonstrationen und Kundgebungen für eine Öffnung des Tempelhofer Flugfeldes und gegen den Bau von teuren Wohnungen und der Ansiedlung von Gewerbe auf dem Gelände. Die Vorgänge in Neukölln sind nicht losgelöst vom Rest der Berliner Politik und deren Abkehr von sämtlichen sozialen Standards im Rahmen einer neoliberalen und pro-kapitalistischen Stadtpolitik.

Langsam formiert sich der Widerstand gegen die Gentrifizierung Nord-Neuköllns. Voraussetzung dafür ist, die politischen Entwicklungen nachzuvollziehen und sich über die wichtigsten Akteure zu informieren. Das Radiofeature „Neukölln in den Kollwitzplatz verwandeln?“ will hierzu beitragen. Es ist längst an der Zeit, in die Entwicklung einzugreifen. Dafür gibt es vielfältige Möglichkeiten. Weiter unten findet ihr einen Info-Kasten mit Adressen, an die ihr euch wenden könnt. Wenn ihr von Mieterhöhungen betroffen seid, ist es wichtig, dass ihr euch wehrt. Wir emp- fehlen allen, sich in der Berliner MieterGemeinschaft zu organisieren. Wichtig ist es aber auch, sich in den Kiezen und in den einzelnen Häusern zu verständigen und darüber zu beraten, was ihr tun könnt. In diesem Sinne ist das Feature auch ein Aufruf zum Handeln. Holen wir uns die Stadt zurück!

Avanti. Projekt undogmatische Linke Dezember 2009

9 Gedanken zu „Berlin: Neukölln in den Kollwitzplatz verwandeln? (Radiofeature)

  1. Mir geht das alles auch enorm gegen den Strich… Aber was wäre denn eine sinnvolle politische Alternative? Welche Rahmenbedingungen, welche Ansätze wären sinnvoller? Gibt es Bücher, Artikel, Texte, die das aufzeigen?

  2. Hallo Andreas, schön, dass du nicht bei einer diffusen Empörung stehen bleiben willst und nach Alternativen suchst. Im Radio-Feature wird am Ende auf das Berliner Bündnis ‚Steigende Mieten Stoppen‘ verwiesen, die auch eigenen Forderungen zum Thema formuliert haben. Vielleicht findest du ein paar der Ansätze sinnvoll.
    Steigende Mieten Stoppen:
    http://mietenstopp.blogsport.de

    Forderungen des Mietenstopp-Bündnisses (.pdf):
    http://mietenstopp.blogsport.de/images/steigende_mieten_stoppen_forderungen.pdf

  3. Vielen Dank für den Hinweis, Andrej. Die Forderungen des Mietenstopp-Bündnisses sind zwar provokativ, aber immerhin streitbar. Es wäre auf jeden Fall schon mal sehr interessant, diese Forderungen den Programmen der politischen Parteien vor der nächsten Abgeordnetenhauswahl gegenüber zu stellen.

    Ein Aspekt, den die Forderungen beiseite lassen, der aber in Kreuzkölln—formerly known as Reuterkiez—eine grosse Rolle spielt und den der Artikel auch kurz anreisst, hat mit der Rolle von Studierenden und ihren WGs zu tun.

    Es ist erstaunlich, wie durch die Individualisierung der Mietzahlung in Wohngemeinschaften die Preise grosser Wohnungen massiv nach oben gegangen sind; 300 Euro pro Person in einer 4er WG erscheinen auf den ersten Blick halt weniger dramatisch als 1.200 Euro für eine 4-Raum-Wohnung.

    Wie kommt man da raus? Wie kann ein Viertel, das sehr schnell sehr attraktiv für Studierende wird, trotzdem auch Familien weiter bezahlbaren Wohnraum bieten?

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  5. Guter Beitrag aber eine wichtige Kritik! Im Beitrag wird zwar viel über die Bewohner_innen, die schon vor den Pionieren hier wohnten, aber keine_r von ihnen kommt im Beitrag zu Wort. Damit ist der Beitrag nur eine weiterer Beleg für eines der grundsätzlichen Probleme der Anti-Gentrifizierungsbewegung, dass sie letztlich nur Herrschaftsverhältnisse reproduziert, wenn sie das Recht auf Wohnraum für Bürger_innen mit Migrationshintergrund einfordert, anstatt sie selbst zu Wort kommen zu lassen. So kommt es mir manchmal vor, als wären die Menschen mit Migrationshintergrund nur ein Trumpf gespielt von der Linken in ihrem Kampf gegen kapitalistische Kräfte. Gerade aber in einem Beitrag, indem verschiedenste Akteure und Akteurinnen des Phänomens Gentrifizierung zu Wort kommen, erscheint es doch sehr merkwürdig, dass die Bewohner_innen der betroffenen Kieze nicht zu Wort bekommen, bzw. nur jene, die gerade erst zugezogen sind. So werden die Alt-Neukölner_innen mit und ohne Migrationshintergrund zum Opfer eines Prozesses und seiner Akteur_innen, den Neu-Neuköllner_innen, stilisiert und selbst als Akteur_innen nicht Ernst genommen. Warum habt ihr nicht eure Nachbar_innen interviewt?

    Trotz aller Kritik: Ein wichtiger Beitrag, habe viel gelernt über den wichtigen Kampf den ihr Kämpft der auch in meinem Interesse als Pionier ist…

    und diejenigen
    wiedereinmal

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