Die Befürchtung vor Aufwertungsprozessen in Berlin zieht immer weitere Kreise. Längst sind es nicht mehr nur die Mieterorganisationen, Stadtteilinitiativen und Kreuzberger Bürgermeister, die vor den Verdrängungsgefahren warnen. Einem Artikel in der Berliner Zeitung „Touristen lieben das Berliner Nachtleben“ ist zu entnehmen, dass nun auch Bernhard Kieker, Chef der Berlin Tourismus Marketing GmbH (BTM) im Chor der Gentrification-Kritik mitsingt.
Kieker teilte die Befürchtung, dass die Gentrifizierung die größte Gefahr für Berlin ist.
Hintergrund sind jedoch nicht die steigenden Mieten sondern die Angst vor dem Verschwinden der Freiflächen für temporäre Partyzonen und improvisierte Clubs. Wenn diese Bauprojekten weichen müssen, dann verliert Berlin seine Attraktivität für viele internationale Tourist/innen – so die Befürchtung des Torismus-Marketing-Experten.
51 Prozent der ausländischen Gäste gaben an, sie kämen wegen des Nachtlebens. Die BTM will den Strandbars helfen, sich international zu vermarkten. Analog zum „Winterzauber“ soll künftig der „Summer of Berlin“ vermarktet werden. „Darunter fällt alles, was man gerne im Sommer macht, aber nicht mit einer Großstadt verbindet“, so Kieker.
Zusammen mit der Club Commission will die BTM nun die Clubs unterstützen, einen Runden Tisch Tourismus einrichten und mit den Bezirken über weitere Zwischennutzungsangebote verhandeln.
Gerade weil in diesem Fall das Geschäftsinteresse hinter der Anti-Gentrification-Position unübersehbar ist, zeigt es deutlich, wie sehr sich die Aufwertungskritik zu einem Passepartout stadtpolitischer Debatten geworden ist. So schön es ist, dass Gentrification nur noch selten geleugnet wird und nur von stadtpolitischen Randgruppen wie der FDP aktiv gefordert wird – so unbefriedigend für eine Debatte ist die wachsende Beliebigkeit des Begriffs.
Ein anderes skurriles Beispiel für diese Begriffsverwirrungen ist das sich selbst vergebene Gütesiegel eine Gentrification-Unbedenklichkeit einer Baugruppe in Alt-Treptow. Im Expose für das Wohnen am Hochdamm (pdf) ist zu lesen:
Unser Baugruppenprojekt ist gentrifzierungs-zertifiziert! Das Wohneigentumprojekt Wohnen am Hochdamm, Berlin-Treptow hat keine direkt nachweislichen Folgen auf das sozialräumliche Umfeld.
In beiden Fällen – der Tourismusförderung durch die BTM und den Bauherrenprojekten – lohnt sich aber eine Blick auf die tatsächlichen Ursache-Wirkungsbeziehungen in den Aufwertungsdynamiken. Welche Auswirkungen hat der Boom von Hotels und Apartments ebenso wie die neue Attraktivität von Baugruppen auf lokalen Wohnungsmärkte? Welchen Beitrag leisten Tourismus und gemeinschaftliche verwirklichte Eigentumswohnungsprojekte für eine soziale Durchlässigkeit der Innenstadtbezirke?
Das mit dem Tourismus-Marketing-Typen ist ja lustig: Beschwert er sich, ungefähr wie Autofahrer im Stau, darüber, dass Freiflächen und Räume der Subkultur durch Neubauten verschwinden – Neubauten, die in Club-gefährdenden Gegenden zur Zeit hauptsächlich für Hostels und Hotels errichtet werden…
Das ist ein Kennzeichen der Tourismus-Industrie: Was sie anpreist macht sie auf Dauer kaputt.
Interessant finde ich die Behauptung der Baugruppe, ihr Vorhaben hätte keine direkt nachweislichen Folgen für das Umfeld. Neben der impliziten Aussage, dass es offenbar sehr wohl indirekte Folgen hat, ist das wohl die Aufforderung an alle anderen im Kiez, so zu tun, als wäre die Baugruppe nicht da…
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