Berlin: Wohnungspolitik in Kreuzberg zwischen Reformvorschlägen und zahnloser Symbolpolitik

Die Gruppe Soziale Kämpfe hatte am Montag Abend zu einer Podiumsdiskussion zur Kreuzberger Wohnsituation geladen: „Kreuzberg 36 in der Krise? Steigende Mieten, Verdrängung und die Auswirkungen auf den Kiez“.

Auf einem Podium versammelt diskutierten dort Joachim Oellerich (Berliner Mietergemeinschaft), Neriman Kurt (Kotti e.V.), Dr. Franz Schulz (Bezirksbürgermeister), Dr. Erwin Riedmann (Stadtsoziologe) sowie Vertreter/innen der Gruppe Soziale Kämpfe und ein Mitarbeiter der 2004 privatisierten Wohnungsbaugesellschaft GSW Berlin.

Berichte zur Veranstaltung gibt es u.a. hier:

Einigkeit herrschte – da sind sich auch die Berichte einig – über die Einschätzung der Situation:

Teile von Kreuzberg sind von Gentrifizierung betroffen und den damit einhergehenden Verdrängungseffekten für alteingesessene Mieter, Menschen in prekärer Beschäftigung und Langzeiterwerbslose. »Kreuzberg weist in den letzten fünf Jahren die stadtweit höchsten Neuvermietungspreise auf«, informierte der Stadtsoziologe Erwin Riedmann. Allein im Gebiet rund um das Kottbusser Tor liegen die Mieten bereits ein Drittel über den Obergrenzen, die im Rahmen der Wohnkostenregelung für Langzeiterwerbslose vom Land übernommen werden. Gleichzeitig werde die Suche nach preisgünstigen Quartieren immer aussichtsloser. Neben dem Mariannenplatz und dem Wrangelkiez gelte dies für weitere Gebiete. Die Sozialberaterin Neriman Kurt vom Kotti e.V. berichtete von einer rasanten Zunahme an Beratungsgesprächen. »Es dreht sich fast ausschließlich um die Miete, wenn Hilfesuchende zu uns kommen.« Zu den Klienten gehörten nicht mehr nur Menschen im Hartz-IV-Bezug. Der Beratungsbedarf erstrecke sich auch auf Erwerbstätige. (junge welt)

Unterschiedlich hingegen waren die Ideen, was dagegen zu tun sei. Franz Schulz wärmte erwartungsgemäß seine Forderungen nach einer mietrechtlichen Mieterhöhungsbeschränkung auf, der GSW-Vertreter versprach künftig in Einzelfällen die möglichen Mieterhöhungen zu prüfen und Joachim Oellerich von der Berliner MieterGemeinschaft forderte ein „radikales Umsteuern der Berliner Wohnungspolitik“.

Neben der Ahndung der Zweckentfremdung von Wohn- in Gewerberaum und Beschränkungen bei der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen forderte Oellerich eine versorgungsorientierte Ausrichtung der landeseigenen Wohnungsunternehmen und einen neuen sozialen Wohnungsbau. (junge welt)

Die Gruppe Soziale Kämpfe will sich mit so kleinen Brötchen offensichtlich nicht abspeisen lassen und forderte eine „umfassende soziale Bewegung (…) um das Recht auf Stadt durchzusetzen“ (taz). Klingt toll, wirkt aber befremdlich, wenn eine ironisch gemeinte Künstlerintervention wie des „Anti-Gentrification- Abwertungskit“ tatsächlich zur politischen Strategie erklärt wird:

Ehe dafür gesellschaftliche Mehrheiten organisiert werden können, wollen die Aktivisten der »Gruppe Soziale Kämpfe« direkt eingreifen. Um Luxussanierungen und Eigentümerwechsel zu verhindern, sollten Quartiere »deattraktiviert« werden. »Wer im Unterhemd rumläuft oder eine Lidl-Tüte als Kühlschrank-Ersatz auf den Balkon hängt, erweckt den Eindruck von Armut und schreckt Investoren ab«, so ein Aktivist. (junge welt)

Deattraktivierung setzt sinnvoller Weise nicht auf den städtischen Erscheinungsebenen, sondern an den Verwertungskalkülen an. Langfristige Effekte gibt es ja nicht, wenn das Image der Nachbarschaft künstlich verschlechtert wird, sondern wenn sich Investitionen an einem Ort in Risikokapital verwandeln, weil der Bezirk strenge Mietregeln verhängt und kontrolliert, weil Hausgemeinschaften sich gemeinsam gegen Modernisierungspläne wehren, weil  größere Bauprojekte mit Bürgerbegehren und Planungsverzögerungen rechnen müssen, weil starke soziale Bewegungen Bauprojekte auch direkt verhindern können… usw. Das sich solch ein Risikocharakter möglicher Investitionen dann auch im Stadtbild niederschlägt: bitte schön. Aber erst den Schatten werfen und hoffen, die Bewegung käme von selbst – das wird nicht klappen.

5 Gedanken zu „Berlin: Wohnungspolitik in Kreuzberg zwischen Reformvorschlägen und zahnloser Symbolpolitik

  1. Schön, dass die Post-Autonomen eine Life-Stile-Lösung für politische und soziale Probleme finden: Man muss nur mit den richtigen (oder falschen) Klamotten rumlaufen und schon ist Schluss mit Stadtteilaufwertung… Ein lustiger Gedanke aus der Welt der Pop-Kultur! Aber warum nennen sie sich nicht besser „Gruppe Symbolische Kämpfe“?

  2. naja, der vorschlag mit den lidl-tüten kam ja eher von dem riedmann.
    trotzdem waere es sinnvoll, wenn die sache physischer werden wuerde. warum denkt eigentlich kaum jemand ueber dinge wie nen organisierten mietboykott nach? bzw vor allem darueber, wie der zu organisieren waere in der notwendigen breite.

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  4. wenn man, wie bei den verfassern des gentrification-blogs eigentlich anzunehmen, ahnung vom thema hat, sollte man bei einer solchen veranstaltung besser hinhören. gegen eine fundierte, solidarische kritik ist ja nichts zu sagen, aber das hier ist ohne grundlage. die deattraktivierungsstrategien kamen von riedmann, nicht von der frau von der gruppe soziale kämpfe und auch er hat sie als ironisches und wörtlich symbolisches element in einem manchmal als aussichtslos erscheinenden kampf beschrieben.
    die gruppe soziale kämpfe hat dagegen den zusammenhang von krise und Stadt hingewiesen und mit ihrem von luxemburg entlehnten konzept der revolutionären realpolitik argumentiert. ihr war vor allem daran gelegen die konkreten kämpfe um die stadt mit denen gegen privatisierungen, gegen neoliberalen kapitalismus, gegen rassismus und für eine sozialistische perspektive zu verbinden.

  5. Lieber nilai,
    ich war selbst nicht auf der Veranstaltung und habe mich für den Beitrag vor allem auf die vorhandenen Artikel auf indymedia, junge welt, taz, nd und ein paar Erzählungen von Freund/innen gestützt. Deshalb stehen die Quellen auch so prominent zu Beginn des Artikels. Wie die meisten anderen Beiträge hier in meinem Blog ist auch dieser Beitrag als persönlicher Kommentar zu mir interessant erscheinenden Berichten, Artikeln und Stellungnahmen geschrieben worden.
    Solch eine kleine Presseschau kann eigene Berichte nicht ersetzen, ich hätte es aber schade gefunden, wenn gar nicht dazu hier zu lesen gewesen wäre. Im übrigen ist ja genau für solche Korrekturen oder andere Meinungen die Kommentarfunktion da und dort wurde ja auch schon Erwin Riedmann als Urheber des Deattraktivierungszitats benannt.
    Als aufmerksamer Leser des Beitrags hier hast du ja sicherlich auch mitbekommen, dass die Zuordnung der Deattraktivierungsstrategien nicht von mir vorgenommen wurde, sondern dem junge-welt-Artikel entstammt. Ob es letztendlich Erwin Riedmann war oder ein Vertreter irgendeiner Gruppe, ist mir letztendlich ziemlich egal. Wichtig war mir jedoch das Argument über eine symbolische Auseinandersetzung hinauszugehen und reale Wohnungspolitik zu entwickeln. Wenn wir uns da einig sind und/oder auch die Gruppe Soziale Kämpfe genau das will, ist ja alles prima. Ich will hier ja keine Noten für verschiedenen Politgruppen verteilen, sondern ein inhaltliche Auseinandersetzung um sinnvolle Strategien gegen Aufwertung und Verdrängung anregen.

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