Das Berliner Straßen- und Obdachlosenmagazin strassenfeger beschäftigt sich im Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe mit „Schöner Wohnen“. Ich wurde angefragt, einen kleinen Überblick zu den Aufwertungstendenzen in Berlin zu geben. In Berlin wird der strassenfeger u.a. in U-und S-Bahn verkauft.
Für alle anderen gibt es den Beitrag auch hier zu lesen:
Aufwertung und Verdrängung in der Berliner Innenstadt
Andrej Holm
Gentrification? Wieder so ein Anglizismus, der es bis in die Überschriften der großen überregionalen Zeitungen geschafft hat. Vor ein paar Jahren galt der Begriff noch als akademische Fachvokabel für die aufwertungsbedingte Verdrängung ärmerer Bevölkerungsgruppen aus städtischen Nachbarschaften – heute ist er aus den Flugblättern und Plakaten von Stadtteilinitiativen ebenso wenig wegzudenken wie aus den wohnungspolitischen Debatten in den Parlamenten. Das Geheimnis dieser Blitzkarriere ist schnell erklärt: Die damit beschriebenen Prozesse der Verdrängung haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen und betreffen zunehmend auch die Mittelschichtshaushalte in den Städten.
Dabei ist das Phänomen selbst gar nicht so neu. Schon immer mussten die Ärmsten aus den Wohnungen ziehen, wenn Hauseigentümer mit Besserverdienenden oder anderen Nutzungen mehr Geld verdienen konnten. So lange sich dies auf gesellschaftliche Minderheiten von Arbeitslosen und Ausgegrenzten beschränkte, gab es kein größeres Interesse sich mit dem Thema zu beschäftigen. Seit auch Akademiker/innen und Lehrerehepaare um ihre Wohnungen in angesagten Vierteln bangen müssen, haben die Politik und die Medien das Thema aufgegriffen. Im SPIEGEL, in der WELT und in der Süddeutschen Zeitung sind in den letzten Monaten regelmäßig Artikel erschienen, die über steigende Mieten, Neubauvorhaben und die Schwierigkeit eine bezahlbare Wohnung zu finden, berichten.
Trotz dieser breiten medialen Rezeption ist der Gentrification-Begriff nach wie vor ein Reizwort und wird von einigen als ‚Kampfbegriff’ bezeichnet. Kein Wunder, werden doch mit den Gentrification-Modellen vor allem die dunklen Seiten der Stadtplanung benannt. Statt um ‚neue Urbanität’, die ‚Rettung der historisch wertvollen Altbausubstanz‚ und die ‚neuen Plätzen für Kreativität’ geht es in der Gentrification-Forschung um die Verdrängung ärmere Bevölkerungsgruppen und die Zerstörung bestehender Nachbarschaftsstrukturen. Stadtplaner/innen, Politiker/innen und auch die meisten Eigentümer/innen wollen genau dafür aber nicht zur Verantwortung gezogen werden und versuchen regelmäßig einen Verdrängungsbefund zu leugnen oder abzuschwächen.
„Nicht jeder Auszug sei Verdrängung“ heisst es dann oft und beliebt sind auch Verweise auf andere Städte: „Im Vergleich zu Frankfurt oder München haben wir doch in Berlin einen ziemlich entspannten Wohnungsmarkt“ oder „im Vergleich zu London und New York ist die Gentrification hier doch harmlos“. Selbst innerhalb Berlins gibt es diese Relativierungsargumente, etwa, wenn im Bezug auf die Aufwertungstendenzen in Kreuzberg oder Nord-Neukölln auf den Kollwitzplatz oder die Spandauer Vorstadt (Gegend um den Hackeschen Markt) verwiesen wird, wo es „eine echte Gentrification gibt“. Stimmt alles – doch nützt es den Betroffenen, die ihre Miete nicht mehr zahlen können relativ wenig, dass es woanders noch schlimmer sein soll…
Verdrängung hat viele Gesichter
Gerade das Argument, irgendetwas sei noch gar keine ‚echte Gentrification’ basiert auf einer sehr starren Vorstellung von städtischen Aufwertungs- und Verdrängungsprozessen. Dabei liegt es auf der Hand, dass Stadtentwicklungsmodelle sich zwischen verschiedenen Städten und auch Stadtteilen unterscheiden und eben nicht überall identiche Formen annehmen.
Um Aufwertungsdynamiken und ihre Wirkungsweisen zu verstehen und sinnvolle Instrumente des Gegensteuerns zu finden, sollten verschiedene Auslöser und Motoren der Verdrängung voneinander unterschiedenen werden:
Klassische Gentrification: Als typisches Muster von Gentrificationprozessen wird oft eine symbolische Aufwertung durch sogenannte Pioniernutzungen angenommen. In bisher vernachlässigte Viertel mit großen Leerständen ziehen dabei Künstler/innen und Alternativszenen ein, eröffnen Galerien, Kneipen und Clubs und tragen mit ihrer Anwesenheit und ihren Einrichtungen zu einem Imagewandel des Viertels bei. Aus einer wohnungswirtschaftlichen Perspektiven wird ein bisher unscheinbares oder sogar schlecht beleumundetes Viertel so zu einer ‚besonderen Lage’, die Extrakosten bei der Vermietung rechtfertigt. Die Spandauer Vorstadt mit ihren vielen improvisierten Galerien in der Auguststraße und Szenekneipen in der Oranienburger Straße kann als typisches Berliner Beispiel für eine solche ‚klassische Gentrification’ angesehen werden. Die meisten Galerien und Ausstellungsorte dort sind mittlerweile kommerziell erfolgreich oder haben die Gegend verlassen. Von den ehemaligen Bewohner/innen leben nur noch etwa 20 Prozent im Gebiet und mit der drohenden Räumung des Tacheles werden nun auch die letzten Spuren des subkulturellen Aufbruchs von Anfang der 1990er Jahre verschwinden. Ein ähnlicher Imagewandel kann zur Zeit in Nord-Neukölln rund um den Reuterplatz beobachtet werden. Noch vor ein paar Jahren galt die Gegend vielen als gefährliches Ghetto um die Rütli-Schule – mittlerweile wurden mit öffentlicher Unterstützung über eine Zwischennutzungsagentur viele Veranstaltungsräume, Designerwerkstätten und In-Kneipen dort eröffnet. Eigentümer, die in Wohnungsannoncen noch vor wenigen Jahren die Neuköllner Lage mit einem „Kreuzbergnähe“ zu verschleiern suchten, werben inzwischen offensiv mit ihren Wohnungen „in Kreuzkölln!“ oder „am Reuterplatz!“. Steigende Neuvermietungsmieten und erste Sanierungsarbeiten sind ein Effekt dieses Imagewandels.
Politisch initiierte Gentrification: Doch längst nicht alle Aufwertungen werden durch den Zuzug von Pionieren ausgelöst und Beispiele wie der Prenzlauer Berg zeigen, dass es nicht die Künstler/innen sind, die für Gentrification und Verdrängung verantwortlich gemacht werden können. Vielmehr waren es dort die zunächst großzügig mit öffentlichen Geldern geförderten Sanierungsgebiete die eine umfassende Modernisierungswelle auslösten. Etwa 1 Mrd. Euro flossen durch Förderprogramme und Steuerabschreibungen in die Altbaugebiete von Prenzlauer Berg, doch nur in den knapp 30 Prozent der Häuser konnten über Förderprogramme auch die Mietentwicklung eingedämmt werden. Vor allem in den seit dem Jahr 2000 sanierten Häusern wurde ein Großteil der Wohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt. Die hohen Wohnkosten sind für ärmere Haushalte kaum noch zu finanzieren und Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften finden faktisch keine modernisierte Wohnung mehr in den Quartieren. Die Mieten und Einkommen in den Altbaugebieten Prenzlauer Bergs gehören mittlerweile zu den höchsten der Stadt. Angeschoben durch ein öffentliches Sanierungsprogramm hat sich Prenzlauer Berg in den letzten 20 Jahren von einer der ärmsten zu einer der wohlhabendsten Wohngegenden Berlins gewandelt.
Umzugsketten-Gentrification: Oftmals wird der durch die Gentrification ausgelöste Wandel in den jeweiligen Aufwertungsgebieten untersucht und diskutiert. Doch gerade Aufwertungs- und Modernisierungsprozesse lösen massive Umzüge aus und können auch anderenorts zu erheblichen Effekten führen. Zum einen kann die Verdrängung von ärmeren Haushalten die Konzentration von benachteiligten Bewohner/innen in anderen Stadtteilen verstärken. Zum anderen gehören viele derer, denen die Miete in luxusmodernisierten Häusern zu teuer geworden ist, in anderen Wohngegenden zu den Besserverdienenden. Verdrängung setzt vielfach gar nicht die vollständige Umwandlung in Eigentumswohnungen und umfangreiche Modernisierungen voraus. Gerade in Vierteln mit vielen Geringverdiener-Haushalten sind es oft schon kleine Mietsprünge, die nicht mehr getragen werden können und zum Auszug führen. In diesem Zusammenhang spielen die Umzugsketten der Aufwertung eine wichtige Rolle. So werden beispielsweise aus Friedrichshain verdrängte Wohngemeinschaften in Neukölln zu Aufwertungsakteuren, die wesentlich höhere Mieten als viele Bestandsbewohner/innen zahlen können. Auch die Umzüge von vielen Familien aus den Sanierungsgebieten in Prenzlauer Berg haben in Pankow und Weißensee eine vergleichbare Wirkung.
Neubau-Gentrification: Als eine vierte Form der Gentrification können Neubauprojekte im Luxuswohnbereich benannt werden. Oft wird argumentierte, eine Neubau können doch niemanden verdrängen, doch werden dabei die Nachbarschaftseffekte in Form von steigenden Bodenpreisen in den umliegenden Wohnquartieren vernachlässigt. Etablieren sich solche Luxuswohn-Enklaven wie die ‚Prenzlauer Gärten’ oder der ‚Marthashof’ in Prenzlauer Berg, dann wird ein Quartier nicht nur in eine ‚bessere’ Wohnlage verwandelt sondern es wachsen auch die unmittelbaren Begehrlichkeiten benachbarter Hauseigentümer/innen und Investor/innen. Werden überdurchschnittliche Kaufpreise von über 3.000 Euro/qm realisiert, fragen sich auch andere Eigentümer, ob sie ihre Wohnungen bisher nicht unter Wert vermieten. Für Berlin ist der Trend der Luxusneubauten noch so jung, dass keine empirischen Erkenntnisse vorliegen. Die Mobilisierungen gegen das Investorenprojekt MediaSpree und auch die Konflikte um die Baugruppen-Häuser in Alt Treptow zeigen jedoch, dass solche Aufwertungseffekte auch in Berlin befürchtet werden.
Berliner Aufwertungszirkel
Die Berliner Entwicklung der Gentrification lässt sich für die letzten 20 Jahre als Kreislauf beschreiben. Insbesondere für die Pionierphasen der Gentrification kann eine regelrechte Wanderung durch die Stadt nachgezeichnet werden, die in Intervallen von etwa fünf Jahren ins nächste Viertel (von Kreuzberg nach Mitte nach Prenzlauer Berg nach Friedrichshain und wieder nach Kreuzberg und sogar Neukölln) weiterzieht. Diese Aufwertungskarawane hat einen wohnungswirtschaftlichen Hintergrund. Zum einen verändern sich durch die beginnenden Modernisierungsaktivitäten in Aufwertungsgebieten die Mietpreise auch für die Gewerbenutzungen, so das insbesondere subkulturelle und improvisierte Nutzungen, die auf preiswerte Räume angewiesen sind, in andere Gebiete ausweichen. Zum anderen ist mit der Etablierung solcher kultureller und subkultureller Nutzungen ein Imagewandel der Wohngebiete verbunden, die in der medialen und öffentlichen Wahrnehmung in „Künstlerviertel“, „Galerienquartiere“ oder „Szenebezirke“ verwandelt werden. Wenn die verschiedenen Formen der Gentrification berücksichtigt werden, wird schnell deutlich, dass große Teile der Berliner Innenstadt davon betroffen sind. Mit dieser räumlichen Ausweitung hat sich die Gentrification zum neuen städtischen Mainstream entwickelt. Sie hat damit den Charakter des Exklusiven und Besonderen eingebüßt und nimmt vielerorts einen scheinbar unspektakulären Verlauf. Das Grundproblem der steigenden Mieten und der Verdrängung ärmerer Bewohner/innen jedoch bleibt bestehen. Was dagegen hilft, wäre ein Kehrtwende der Stadtpolitik und eine gründliche Regulation des Wohnungsmarktes. Ob dies in Berlin gelingt, wird nicht zuletzt von der Stärke der sozialen Bewegungen und ihrer Mobilisierungen abhängen.
(veröffentlicht in strassenfeger, Ausgabe 16/September 2010)
Sehr geehrter Herr Andrej Holm,
ich habe Ihren Artikel mit grosser Aufmerksamkeit gelesen. Ich möchte gern wissen, ob Sie die Gentrifikation befürworten. Welche Kriterien würden Sie für eine akzeptable Kentrifikation aufstellen? Was würden Sie für die baufälligen Häuser in den Altstadtvierteln vorschlagen, wenn Sie gegen die Gentrifikation sind. Für eine ausführliche Antwort danke ich Ihnen im Voraus. Mfg Prof. Dr. Hasan Coskun, Türkei
Sehr geehrter Prof. Hasan Coskun,
für eine ausführliche Antwort ist die Kommentarfunktion eines Blogs sicher nicht der richtige Ort. Dennoch ein paar kurze Stichworte:
So wie ich Gentrification als Verdrängungsprozess definiere, gibt es aus einer sozialen Perspektive nur wenige (bzw. keine) Aspekte, solche Entwicklungen zu rechtfertigen. Dies bedeutet aber nicht, dass eine Gentrification-Kritik die Verbesserung der Wohnverhältnisse ablehnt.
Aus meiner Sicht müsste es vor allem darum gehen, insbesondere ärmere Haushalte in den Städten an den Aufwertungsmaßnahmen teilhaben zu lassen. Leider ist ja oft das Gegenteil der Fall: Stadtviertel werden saniert und in der Qualität verbessert – aber die ehemaligen Bewohner/innen ziehen fort.
Ganz allgemein ließe sich eine sozialverträgliche Stadterneuerung auf die Formel von Dekommodifizierung+Mitbestimmung herunterbrechen. Etwas konkreter: erst wenn es gelingt, Investitionen und Modernisierungsarbeiten von verdrängungsrelevanten Preissteigerungen zu entkoppeln, könnte eine Stadtreparatur auch sozialverträglich gestaltet werden. Ein wesentlicher Aspekt dabei ist es sicherlich, die Bewohner/innen selbst zu den Entscheidern und Akteuren der Gebietsentwicklung zu qualifizieren.
Förderprogramme, die eine Selbsthilfe ermöglichen und zugleich ein langfristige Wohnperspektive sichern, könnten ein Weg dabei sein. Ganz grundsätzlich sind alle Instrumente der politisch-administrativen Steuerung (Geld, Recht, öffentliches Eigentum) geeignet, die Marktlogiken zu brechen oder zumindest abzuschwächen. Nur leider nutzen die meisten Städte ihre Macht und Ressourcen vor allem, um eine imaginierte Wettbewerbsfähigkeit des Standorts zu profilieren. Soziale Aspekte bleiben dabei auf der Strecke.
Soweit eine kurze Antwort auf Ihre Fragen (wenn ich es zeitlich schaffe, dann werde ich hoffentlich bald auch einen ausführlichen Text dazu schreiben).
Mit freundlichen Grüßen,
Andrej Holm
in bezug auf neukölln, reuterkiez, weichselplatz, karl.marx strasse wird gern vergessen, dass dieser stadteil mit volleröffnung von schönefeld flughafennah liegen wird.
das im mäzr (!) eröffnete rixpack hostel an der k-m strasse wirbt mit ‚only 30 mins from schönefeld’…
in den mieten ist das bereits eingepreist.
Sehr geehrter Herr Andrej Holm,
ich habe folgenden Blog zu Gentrifizierungsprozessen in Neukölln gelesen: http://blogs.taz.de/streetart/2009/03/31/gentrifizierung_in_neukoelln/
Und würde nun gerne wissen, was Sie darüber denken, wenn für die Gentrifikation individuell Künstlerkollektive, BarbetreiberInnen etc. verantwortlich gemacht werden. Diese sind ja zumindest zum Teil auch Menschen, die keine andere Arbeit gefunden haben oder keine Lust haben für einen Chef in sinnentleernter Arbeit zu buckeln und sich nun versuchen selbstständig durchzuschlagen.
Meines Erachtens wird gerade auch seitens von GentrifizierungsgegnerInnen zunehmend die Verantwortung individualisiert und pauschalisiert und so die berechtigte Wut über neoliberale Stadtpolitiken an Mitmenschen ausgelassen, die halt auch kein hundertprozent richtiges Leben im Falschen leben können und trotzdem versuchen ihre Ideen etc. zu verwirklichen.
Würde mich über einen Kommentar freuen!
Liebe Grüße
Hanna
Hallo Hanna,
spannendes Thema und nicht so auf die Schnelle zu beantworten. Hier im Blog findest du aber den einen oder anderen ausführlichen Beitrag zum Verhältnis von Gentrification und Kultur.
z.B.:
http://gentrificationblog.wordpress.com/2010/01/18/berlin-clubkultur-und-gentrification/
http://gentrificationblog.wordpress.com/2009/12/17/gentrification-subkulturelle-aufwertungslogiken/
Hallo Herr Holm,
Danke erstmal für die geposteten Links!
Allerdings ist mir trotz lesen der Artikel Ihre Meinung zu dem Thema der individualisierten Schuldzuweisungen nicht ganz klar geworden.
Bezüglich der von Ihnen vorgeschlagenen Strategien (Dislokation, De-Attraktivierung von beliebten Orten oder einer „Kunst im öffentlichen Interesse“), frage ich mich auch, ob es sich dabei nicht dennoch um eine Individualisierung und daraus entstehende Überforderung handelt bzw. handeln könnte.
(1) Zur Dislokation: Folgt man der Argumentationskette im Prozess der Gentrifizierung, dann ist es entsprechenden Personen ja nicht unbedingt möglich, die z.Z. billigeren Standorte – welche ja meist die zukünftig boomenden sind – für ein Sich-Selbstständig-Machen zu vermeiden (außer entsprechende Person hätte schon sehr viel Kapital im Hintergrund, was wiederum eine ganz andere Thematik wäre).
(2) Zur De-Attraktivierung von Orten: Diese Idee halte ich für sehr interessant, dennoch empfinde ich sie teilw. als Kommodifizierung i.S. eines umgekehrten Labelings und frage mich, inwiefern das dem Großteil der KiezbewohnerInnen nun wirklich entspricht und nicht gerade dadurch auch die gegenwärtigen Tendenzen einer Weißen, Männlichen und studentisch-geprägten Vereinnahmung von Widerstand führt, welche m. E. nicht gerade zu einer kollektiven Kiezbewegung gegen Gentrifizierung führt.
(3) „Kunst im öffentlichen Interesse“: Für eine solche Form politisch-partizipatorischer Kunstprojekte und die aktive Beteiligung an Anti-Gentrification-Mobilisierungen sehe ich zwei grundlegende Probleme. Zum einen jenes, dass auch und gerade partizipatorische Projekte ja gerne seitens der Stadtplanung etc. vereinnahmt bzw. als Aushängeschild für die „Befriedung des problematischen Kiezes“ genutzt werden – was nicht heißen soll, das sie an sich schlecht sind, aber zumindest ebenso die Gefahr der Entradikalisierung und Vereinnahmung bergen. Zum anderen den Aspekt der Kommodifizierung der Kunst als solcher selbst und die Frage, inwiefern KünstlerInnen sich an der Wahrnehmung der Betrachter orientieren wollen und sollten und damit evtl. auch einen Teil der Ausdrucksfreiheit verlieren. Wenn Kunst dann als „Grafikdesign für den Widerstand“ dient ist das vielleicht toll, hat aber auch seine Schattenseiten, da einerseits ebenso ein kommodifizierbares Labeling – diesmal für den guten Zweck – entsteht (was wiederum nicht alle gutheißen) und andererseits das kleine bisschen Rest-Freiheit im Prozess des Kunstschaffen evtl. individuell verloren geht durch ein Übermaß an individuell internierter moralischer und sozialer Verantwortung.
Daher frage ich mich, ob die genannten Strategien nicht nur in Ausnahmefällen realisierbar sind, d.h. wenn entsprechende Menschen wie man so schön sagt über genügend sog. „soziales Kapital“ verfügen bzw. schon im Vorhinein kollektiv organisert sind oder andererorts irgendwie ein Mehr an Handlungsspielraum erreicht haben – wobei das irgendwie hierbei sehr interessant wäre, da ich mich frage, womit diese Menschen sich dann wiederum selbst ihre Brötchen verdienen und ob diese Arbeit denn selbst so frei von Kommodifizierung ist, dass es sich die Menschen erlauben können, solch hohe Ansprüche an anderer Menschen Tätigkeiten zu stellen. Bspw. verwandelt sich ja auch der Wissenschaftsbetrieb zunehmend zu einem Wettbewerb um Cluster, Publikationen & Co.
Wenn ich mir nun bspw. vorstelle, dass jmd eine Bar o.ä. eröffnet, um sich von gewissen anderen Zwängen (wie Lohnarbeit) zumindest teilweise zu befreien und nun mit diesem Selbstständigmachen vollauf beschäftigt ist, frage ich mich desweiteren inwiefern bzw. wem es dann eigentlich praktisch – und nicht nur theoretisch – noch möglich ist große Widerstandsformen zu generieren.
Meine Interesse ist hier keineswegs alles zu entpolitisieren und zu sagen „mensch kann sowieso nichts tun“, aber ich frage mich dennoch nach den praktischen Möglichkeiten und Grenzen der individuellen Handlungsfähigkeit im Kontext der Gentrifizierung und denke, dass die zunehmende Überführung von gesellschaftlichen Problematiken in die individuelle Lebensführung viele problematische Aspekte beinhaltet, worunter m. E. auch Aspekte der Moralisierung zu individueller Ohnmacht bzw. Ohnmachtsgefühlen führen können.
Falls Sie meinen, dass ich den Rahmen Ihres Blogs hiermit sprenge, würde ich mich ansonsten auch über eine Antwort an meine Mailadresse freuen.
Mit lieben Grüßen
Hanna
Hallo Hanna,
du sagst, „…dass die zunehmende Überführung von gesellschaftlichen Problematiken in die individuelle Lebensführung viele problematische Aspekte beinhaltet“. Daran krankt meiner Meinung nach die gesamte Gentrification-Paranoia. Hier wird unterstellt, dass ein großer Teil der Bevölkerung poltisch engagiert ist, gerne auch bereit ist persönlich zurückzustecken um sich dem „Kollektiv“ der Prekariatsangehörigen anzuschließen oder zumindest eine breite Unterstützung zu geben. Das ist meiner Meinung nach nicht der Fall. Wie heisst es so schön: Die Revolution in Deutschland ist ausgefallen, weil auf allen Schildern stand: Rasen betreten verboten. Und das ist die Realität.
Ich habe meine Hochachtung vor jedem, der versucht sich mit einem kleinen Laden oder einer Bar selbstständig zu machen. Er tut wenigstens was und nimmt sein Schicksal in die Hand. Genauso wie die Baugruppen, die finanziell in diesen unsicheren Zeiten die Kraft finden ein solches Projekt zu stemmen. Diese guten Tendenzen im Vorfeld argumentativ abzuwürgen nur um das Prekariat ja nicht der Gefahr auszusetzen, dass sich das eigen Viertel verändert würde absoluten gesellschaftlichen Stillstand bedeuten. Das wäre wie die Erschaffung eines Diadoramas an dem nichts verändert werden darf, für mich eine grausame Vorstellung.
Und dann diese zwar medienwirksamen aber lächerlichen De-Attraktivierungs-Irrungen. Wer will denn schon in einem, dazu auch noch künstlich erzeugtem, heruntergekommenen Bereich leben? Das sind wohl die wenigsten. Und auch hier ist die Durchmischung der einzelnen Quartiere so groß und die eigene Trägheit bei den Meisten so weit fortgeschritten, dass die Entwicklung wohl frühzeitig ins Leere laufen würde.
Und bei der ganzen Sache wie du richtig bemerkst mit der Moralkeule zu kommen löst nicht nur Ohnmacht sondern auch Wut aus und das wird gerade dem Prekariat nicht viel weiterhelfen…man erreicht am Ende nur das Gegenteil.
herr holm,
bitte beantworten sie doch noch hannas anfragen auch hier im blog. es wäre so schade, wenn nur hanna in ihrere persönlichen email davon erführe.
ich freute mich gerade so sehr über den erfreulich anspruchsvollen dialog zwischen ihnen als plötzlich schluss ist…
in der hoffnung auf fortsetzung und großem dank für ihre aufklärungsleistungen,
heinrich
Ich finde die Beiträge von Hanna sehr wichtig und würde mich sehr für einen Kommentar von A. Holm dazu interessieren.
Geht es bei dem Dialog im Grunde nicht darum, dass Gentrification sozusagen ein automatisch ablaufender Prozess der Stadt im Kapitalismus der postindustriellen Zeit ist? Und dass das Zuweisen der Schuld an die ‚Pioniere‘ im Hinblick auf die Verdrängung nur davon ablenkt, dass unsere Gesellschaft im Grunde in dieser Art von Verwertungsprozessen funktioniert. Ich sehe da wie Hanna eine Überforderung des Individuums. Auch halte ich es für schwierig, wenn Kunst politisch korrekt sein soll, um Gentrifizierung entgegenzuwirken. Kunst hat ihre eigene Logik und sollte weder zur Aufwertung von Immobilien noch zur sozial sinnvollen Mobilisierung verwendet werden müssen. Ich würde vermuten, dass der einzige Weg, Gentrifizierung entgegen zu wirken, politische Reglemtierungen beinhalten muss, so dass potentiellen Eigentümern die Lust an der Spekulation von vorne herein genommen wird.
viele Grüße
Sarah
Liebe Hanna, liebe Sarah,
vielen Dank für eure Beiträge, die ich sehr spannend finde und die ja im Kern das Dilemma (nicht nur) von Kulturproduzierenden im Kapitalismus beschreiben, nämlich: mit ihrer Arbeit einen symbolischen Mehrwert zu generieren, der sich auch auf die eigenen Wohn-, Lebens- und Arbeitsbedingungen auswirkt.
(Harth&Negri sprechen in diesem Zusammenhang sogar von der ‚Stadt als unserer Fabrik‘ und attestieren den wissensbasierten Arbeiten eine weitgehende Autonomie gegenüber dem Kommando des Kapitals (vor allem im vergleich zur Fabrikarbeit, die ohne die Weisungen/Befehle von kapitalistischen Kommandobrücken nicht denkbar wäre). Zugleich verweisen sie aber darauf, dass der zentrale Zugriff des Kapitals auf diese Arbeitsleistungen mittlerweile über die Kapitalisierung der Grundrenten erfolgt. Die symbolischen Aufwertungseffekte von ‚Künstlervierteln‘ sind da ein anschauliches Beispiel für.
Gentrification betrifft also letztendlich also die Arbeitsverhältnisse/Bedingungen der Kulturproduzierenden selbst – und schon aus dieser Perspektive wäre es konsequent, wenn sich auch Künstler/innen mit ihren stadträumlichen Effekten auseinandersetzen. Dass es dabei nicht um Schuldzuweisungen gehen kann, finde ich auch.
Die ‚drei‘ vorgeschlagenen ‚Strategien‘ sind ja erst einmal vage Überlegungen, von denen ich zwei (Dislokation und Deattraktivierung) als nur bedingt gebrauchsfähig beschreibe. Die Begrifflichkeiten von der Kunst im öffentlichen Interesse oder der Kultur des Widerstandes sind in Diskussionen mit Künstler/innen entwickelt worden, die genau das von mir wollten, was ihr als Überforderung betrachtet: eine Anleitung für eine aufwertungsneutrale Kunst.
Wie das Feld der künstlerischen Praxis letztendlich bestellt wird, bleibt dabei natürlich die individuelle Entscheidung der Künstler/innen und ich will die von mir skizzierte ‚Strategie‘ nicht als Maßstab zur Bewertung künstlerischer Aktivitäten verstanden wissen.
Was bleibt ist aber die individuell politische Verantwortung (auch) der Künstler/innen, sich in die Prozesse der Nachbarschaft einzubringen oder auch nicht. Aus den benannten Gründen (ausgeprägtes Maß an Selbstreflexion, Kollektivitätserfahrungen, Vermittlungstalent und das Wissen um projektbezogene Abläufe) haben Künstler/innen (wie auch viele Aktivist/innen der Politszene) eine Reihe von Ressourcen, die in stadtpolitischen Auseinandersetzungen gut gebraucht werden können.
Und die von Sarah gewünschten ‚politischen Reglementierungen‘ werden sich letztendlich vor allem mit Druck von starken sozialen Bewegungen durchsetzen lassen.
Soweit erstmal, das Thema wird uns sicher noch eine Weile begleiten,
Andrej